Au fil d’Ariane (Café Olympique) von Robert Guédiguian. Frankreich, 2013. Ariane Ascaride, Gérard Meylan, Jean-Pierre Darroussin, Youssouf Djaoro, Anaïs Demoustier, Jacques Boudet, Lola Naymark, Adrien Jolivet
Einer der letzten Träumer und Utopisten, der seine Ideen und Geschichten nicht auf XXL aufblasen muss. Seine Liebe gehört dem Süden, gehört den verschrobenen, schrulligen Typen, den Außenseitern, den Unangepassten, nach Meinung vieler sicherlich Verlierer. Er macht irgendwie schon Wohlfühlkino, aber keines, das sich dem breiten Geschmack anbiedert, sondern eines, das eine ganz private Vision verfolgt und konsequent in Bilder kleidet. Robert Guédiguian ist zweifellos einer der eigenwilligsten und prägnantesten französischen Filmemacher, und spätestens seit dem großartigen „Schnee am Kilimandscharo“ habe ich wieder großes Interesse an seinen Filmen gefunden. Dieser neueste Film nun, oder besser gesagt, die neueste „fantaisie“, wie im Vorspann augenzwinkernd behauptet wird, führt uns vertraute Gesichter, vertraute Milieus, vertraute Motive vor, transportiert all dies aber auf entschieden märchenhaftes Terrain. Und nach dem hübschen Schlenker ganz kurz vor Schluss möchte man das Ganze am liebsten noch einmal sehen und genießen, nun mit dem Wissen, das man beim ersten Mal eben noch nicht hatte.
Ariane wird fünfzig, doch niemand will sie besuchen. Von überall kriegt sie fröhliche Anrufe, vom Ehemann, den Kindern und Freunden, aber alle sind sie in der Weltgeschichte unterwegs und glauben, Ariane feiert bestimmt mit den anderen. Vor lauter Frust setzt sie sich kurzentschlossen ins Auto und fährt einfach los in ein wildes Abenteuer, das immer verrückter wird, sie immer weiter von ihrem alten Leben fortführt, doch gottlob gibt’s am Schluss ein Erwachen, und zwar eines im buchstäblichen Sinne...
Verblüfft und amüsiert zugleich folgt man einer Erzählung, die komplett launisch und unvorhersehbar verläuft, die sich quasi gemeinsam mit ihrer Protagonistin dahintreiben lässt, so wie es gerade kommt. Ein Motorradfahrer gabelt sie an einer hochgezogenen Autobrücke auf, mitten in einer spontanen Tanzeinlage aller Wartenden, sie lernt das Café Olympique, sein skurriles Personal und seine nicht minder skurrilen Stammgäste kennen und verstrickt sich immer weiter in deren private Geschichten. In allerkürzester Zeit verliert sie alles, was sie an das alte Leben band – Auto, Handtasche mitsamt Identität, Geld und Wohnungsschlüssel. Plötzlich schläft sie auf einem Boot, wird vom Cafébesitzer umworben, kümmert sich um einen traumatisierten Afrikaner, eine junge Prostituierte und ihren eifersüchtigen Freund, geht fischen, besucht das Grab ihrer Mutter und landet plötzlich auf einer Bühne und singt zur Begeisterung aller einen Chanson, mit dem einst schon die Mama Erfolge gefeiert hat. Und dann ist der Traum aus, doch die Realität erweist sich keineswegs als ernüchternd und trüb, sondern im Gegenteil als beglückend und harmonisch. Da ertrag ich glatt auch noch den bösen alten Schülerquäler Jean Ferrat…
Wie gesagt, ein Märchen, eine bezaubernde Schrulle randvoll mit bezaubernden Leuten drin, die sich gemeinsam eine kleine Welt irgendwo am Rande von Marseille direkt am Meer zurechtgezimmert haben, eine Welt, die mit der großen Welt drumherum natürlich so ihre Berührungspunkte hat, aber nicht allzu viele, wenn man mal drüber nachdenkt. Tagsüber kommen haufenweise Busse mit alten Leutchen ins Café, die werden dort abgefüttert und winken glücklich zum Abschied, aber sonst dringt eigentlich nichts und niemand ein in diese schräge Idylle, die in sich durchaus nicht heil ist, doch bevölkert von Menschen, die bereit sind, zu vergeben, zu lieben und füreinander da zu sein. Klar träumt Guédiguian wieder seinen Traum von der Solidarität, der friedlichen Existenz, der Toleranz und Freundschaft, und diesmal geht er sogar so weit, diesen Traum ganz explizit als einen solchen auszuweisen. Doch dann geht er noch weiter und zeigt die Welt nach dem Erwachen wiederum in traumhafter Harmonie, jetzt ganz ohne Netz und doppelten Boden. Dafür muss man entweder total bekloppt und naiv sein, oder einfach ein unverbesserlicher Idealist. Gerade letzteres ist mir unendlich sympathisch, so wie mir dieser Film enorm sympathisch ist, weil er so entwaffnend offen mit seinem Idealismus umgeht und auch gar nicht so tut, als stecke irgendeine übergeordnete Idee dahinter. Wer solche Filme macht, hat die Welt sehr genau studiert, hat lediglich eine andere Konsequenz aus seinen Studien und ihren Ergebnissen gezogen. Guédiguian und seine wunderbaren Darsteller machen das einmal mehr so entwaffnend und mit soviel Liebe und Überzeugung, dass ich nicht anders kann als ihrer Vision zu folgen. Wenn dies Kino ist, das aus der Zeit fällt, dann ist das gut und richtig so und ist wohl auch so gewollt. Jeder braucht seine Zufluchtsorte, Guédiguian ist da vollkommen offen und ehrlich, und wenigstens für neunzig Minuten kann ich mich bestens darauf einlassen. Nach den neunzig Minuten dann: Bielefeld… (30.12.)