Jag etter vind (Chasing the wind) von Rune Denstad Langlo. Norwegen, 2013. Marie Blokuhus, Sven-Bertil Taube, Tobias Santelman, Frederik Meldal Nørgaard, Marte Aunemo, Per Tofte

   Als sie vom Tod ihrer Oma erfährt, lässt sich Anne von ihrem Freund Mathias dazu überreden, nach vielen Jahren wieder rauf nach Norwegen zu fahren. Von Berlin geht’s per Auto, Flugzeug, Bus und Schiff den weiten Weg in die entlegene Wildnis am Fjord. Der Weg ist auch in ganz anderer Hinsicht weit: Opa Johannes ist ein bockiger, grummelnder Einsiedler geworden, der sie nicht gerade mit offenen Armen willkommen heißt, sondern sie wegen allem und jedem anraunzt, Nachbar Arne scheint auch so seine Geheimnisse zu haben, und dann ist da ja auch noch ihr Exfreund Håvard, der nach dem frühen Tod seiner Frau die kleine Tochter allein erzieht, und den Annas Rückkehr auch nicht gerade in Begeisterungsstürme versetzt, denn ihre Trennung damals hängt ihm noch immer in den Knochen. Anne hat an allen Fronten eine Menge zu tun: Sie muss das Eis zum Opa brechen, sie möchte mehr über die Großmutter erfahren, sie muss den Ex bei Laune halten, damit er einen Sarg tischlert, und sie hat auch noch mit einem lang verschütteten Trauma zu tun, dem tödlichen Segelunfall ihrer Eltern, den sie als kleines Mädchen erlebt und noch nicht überwunden hat. Und als dann auch noch Mathias aus Berlin anreist, ist noch eine weitere  Entscheidung fällig.

   Solche Filme leben nicht davon, dass sie große Überraschungen parat halten. Der Lauf der Geschichte ist bei einiger Erfahrung mit ähnlichem rasch übersehbar: Die Reise in die Vergangenheit, die Auseinandersetzung mit Unbewältigtem, die Frage nach der Herkunft und der Zugehörigkeit, die Frage, wen man wirklich liebt und mit wem man wirklich leben will. Alles nicht neu, alles schon nach spätestens einer halben Stunde klar – aber dann kommt es halt noch auf das Wie an, und das macht diesen Film zu einer wirklich überaus schönen und runden Sache. Von Beginn an findet er einen wunderbar ausgewogenen Rhythmus aus Bildern, Musik und der Erzählung, in die sich die wenigen Charaktere bruchlos einfügen. Da dies ein echter skandinavischer Film ist, wird weniger auf viele Worte gesetzt, eher auf das Ungesagte, das Atmosphärische zwischen den Leuten, alles andere bahnt sich allmählich an, ergibt sich nach und nach, als man sich wider aneinander gewöhnt, Vertrauen gefasst hat und anfängt, sich zu öffnen und wieder miteinander zu sprechen. Die Großstädterin Anna muss das genauso lernen wie die Daheimgebliebenen, muss ihren Stolz und ihre anfängliche Hochnäsigkeit ebenso überwinden wie der Opa und der Ex ihre jeweils doch sehr tiefsitzenden Verletzungen, an denen Anna einen gehörigen Anteil hat. Auf diesem Wege ergibt es sich, dass Anna das Bild ihrer Großmutter grundlegende revidieren muss und dass sie es endlich schafft,  ihrem Opa zu erzählen, was damals auf dem Segelboot passiert ist, wie sie hilflos ansehen musste, wie ihre Eltern vom herumschwenkenden über Bord gefegt wurden und sie nichts tun, ihren Vater nicht wieder hoch aufs Boot ziehen konnte. Johannes seinerseits schafft es endlich, der Enkelin zu erzählen, wie die Oma ihn einst betrog und für mehrere Jahre verließ, zum Nachbarn Arne zog und nur zum Sterben zu ihm zurück kam. Und als dies erledigt ist, als er sich davon befreit, das Belastende weiter gegeben hat, kann er sich auch hinlegen und einschlafen, womit er gleichzeitig Annas Entscheidung, vielleicht doch bleiben, bestärkt.

 

   Es geht also auch um sehr elementare menschliche Fragen und Themen, doch ist dies nun auch kein Ingmar-Bergman-Film, keine psychologische Tiefenbohrung, kein düsteres Kammerspiel, sondern eher eine ruhige Ballade mit melancholischem Grundton, aber auch geschickt eingefügten Aufheiterungen. Wunderschöne, meditative Bilder von der imponierenden norwegischen Fjordlandschaft, gelegentlich sehr wirkungsvoll anklingende Musik und vor allem ein tolles Darstellerensemble, das Geschichten wie diese unbedingt benötigen und ihre Statik zum Leben erweckt, machen ihre Stärken aus. Ich kann mich für neunzig Minuten einfach mal fallen, treiben lassen, kann die Bilder in sich aufnehmen, sie genießen und mich darüber freuen, dass wenigstens ab und zu mal sowas Schönes aus dem Norden zu uns kommt. Selten, klar, aber immerhin. (18.6.)