Das radikal Böse von Stefan Ruzowitzki. BRD, 2013
Zunächst bleibt mir einmal mehr die Feststellung, dass der von den Nazis initiierte und von all den Handlangern durchgeführte Genozid meine persönliche Vorstellungsmöglichkeit übersteigt. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, finde dazu keine Bilder. Wie soll ich mir vorstellen können, dass binnen gut zweier Jahre (1941 bis 43) deutsche Truppen während des Russlandfeldzugs zwei Millionen jüdische Bürger in Weißrussland, der Ukraine und allem, was man sonst als „Ostgebiete“ bezeichnete, exekutierten? Deutsche Soldaten, bewaffnet mit Pistole und Karabiner. Hinrichtung durch Genickschuss. Jeden Menschen einzeln. Der Befehl lautete, die gesamte jüdische Bevölkerung jener Gebiete restlos auszurotten. Das hieß: Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Dorf für Dorf, Stadt für Stadt. 2 Millionen Männer, Frauen und Kinder. Zweieinhalb Jahre lang. Bis dann endlich deutsches Effektivitätsstreben, deutsche Gründlichkeit und deutscher Erfindungsgeist auf die glückliche Idee kamen, den Völkermord künftig in eigens dafür eingerichteten Lagern auszutragen, und damit letztlich die einzelnen Soldaten von der undankbaren und allzu großen Last der Massenerschießungen zu befreien. Kein Akt der Barbarei also, regelrecht ein Akt der Gnade...
Ungeachtet also der Überforderung, die ich jedesmal erlebe, wenn ich mit diesem Thema zu tun habe, halte ich diesen Film für außerordentlich gut und vor allem wichtig, und ich kann der Kritik der katholischen Publizistik einmal mehr überhaupt nicht zustimmen. Dies hat nichts mit Guido Knopp zu tun, nichts mit „Infotainment“, erst recht nichts mit Soap, Gott behüte! Die ist sicherlich kein konventioneller Dokumentarfilm, und dies ist sicherlich ein Film, der in der relativen Kürze seiner Dauer enorm viel und enorm komplexes Material verhandelt – vielleicht ein wenig zu viel, zugegeben, aber der Stoff ist halt dermaßen vielschichtig und weitreichend, dass die Versuchung groß ist, so viele Aspekte wie eben möglich zu streifen. Ich verstehe dies auch als Anregung, weiter zu lesen und zu denken – das ist nämlich durchaus erlaubt – und habe den Film nicht als eine letztgültige, gänzlich erschöpfende Abhandlung gesehen. Glaube auch nicht, das Ruzowitzki ihn so verstanden wissen wollte.
Der Film selbst ist eine Mischung aus knappen, nachgestellten Szenen mit deutschen Soldaten an oder genauer gesagt hinter der Front, die eher Stimmungen und Atmosphäre wiedergeben, Berichte von psychologischen Testreihen, in denen gezeigt wird, wie immens manipulierbar und konditionierbar menschliches Verhalten ist, eine kurze Recherche in der Ukraine, in der eine junge Dolmetscherin alte Einheimische nach ihren damaligen Erlebnissen befragt und sich Schauplätze der Gräuel zeigen lässt, und – für mich am spannendsten – Gespräche mit Historikern, Psychologen, Juristen und anderen Experten, in denen versucht wird, der Frage auf den Grund zu gehen, wie es zu diesem jahrelang andauernden Morden kommen konnte. Diese Frage wird notwendigerweise von ganz verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Da ist die ideologische Grundierung durch Hitlers Rassenwahn, der den Genozid gerechtfertigt und vorbereitet hat und in dessen Folge es tatsächlich gelang, die Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung so gegen die Juden zu lenken, dass ihre Vernichtung nachgerade las Notwendigkeit für den Fortbestand des deutschen Volkes angesehen wurde. Da geht es aber auch um den militärischen Aspekt, das heißt, wie schafft man er’s, Soldaten zur Befolgung ganz offenbar unmenschlicher Befehle zu bringen, welche Voraussetzungen sind nötig, um jeden Einzelnen scheinbar von der persönlichen Verantwortung zu entbinden, ihn zu „entschulden“, zu entlasten, ihn zum kleinen Teilchen eines großen Ganzen werden zu lassen. Ein US-amerikanischer Militärpsychologe bietet faszinierende und höchst erschreckende Einblicke in die Mechanismen, die greifen müssen, um aus einem Menschen einen Soldaten zu machen, so wie es im Falle dieser Einsatztruppen leider geschehen ist. Außerdem wird die Frage nach dem Bösen verhandelt, dem Bösen als ein dem Menschen innewohnender Charakterzug, und dem Umgang damit. Und – ganz wichtig – am Schluss der französischer Priester, der sich seit Jahren sehr um die Aufklärung des Holocaust in der Ukraine bemüht, und der klar und deutlich darauf hinweist, dass es Genozide noch immer gibt, dass die Weltgemeinschaft noch immer lethargisch und passiv, zum Teil auch ganz einfach gleichgültig ist, und sich lieber über die Definition des Begriffs streitet, als bedrohten Menschen zu helfen. Dieser Appell gibt dem Film meiner Ansicht nach eine zusätzliche Dimension, verhindert unter anderem, dass man ihn bei Bedarf als rein historische Aufarbeitung verstehen könnte, die mit dem Hier und Jetzt gar nichts zu tun hat. Auch die Ausführungen der Historiker und Psychologen gehen im Übrigen genau in diese Richtung, weisen auf Strukturen hin, die über diesen einen Fall hinausgehen, betonen die dringende Notwendigkeit, sich weiterhin und immer wieder mit diesen Themen zu beschäftigen. Schon allein ihre bemerkenswerten Ausführungen lohnen den Film allemal, aber auch die vielen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen deutscher Soldaten, aus denen im Off zitiert wird, werfen ein bestürzendes Licht auf das Grauen dieser Jahre und auf die unterschiedlichen Reaktionen und Verarbeitungsmöglichkeiten. Manche entdecken den blutrünstigen Sadisten, der mit Freude und Tatendrang ans Töten geht. Andere reagieren erschüttert, traumatisiert, lassen sich vom Töten befreien – und zu unserem Erstaunen erfahren wir, dass dies tatsächlich möglich war, dass nicht jeder Soldat töten musste -, wieder andere versuchen sich mit Rechtfertigungen, denken an ihre Familien und daran, was die bösen Juden mit ihnen anstellen würden, und wieder andere flüchten sich in Alltag, Routine, Verdrängung. Wir erfahren, dass nach dem ersten Schock zumeist eine schnelle Gewöhnung einsetzt, unterstützt von dem Gedanken, nicht allein zu sein, sondern in der Gruppe zu agieren und vor allem das richtige zu tun. Wir hören kaltschnäuzige junge Kerle, die das Töten eher technisch betrachten, andere, die zwar von Mitleid schreiben, dies aber auf rein abstrakter Ebene, wieder andere, die dennoch ein mulmiges Gefühl bewahren und tief in Innern ahnen, dass sie furchtbares Unrecht tun.
Es könnte noch sehr viel über den Film und all die vielen Informationen und Details gesagt werden. Für mich stellt er eine sehr eindrucksvolle und auch formal durchaus adäquate Form der Auseinandersetzung mit einer Zeit dar, die wir wohl niemals hinter uns lassen werden und es auch nicht sollten, und zwar nicht nur als Deutsche, sondern als Menschen. (19.2.)