The young and prodigious T.S. Spivet (Die Karte meiner Träume) von Jean-Pierre Jeunet. Frankreich/Kanada, 2014. Kyle Catlett, Helena Bonham-Carter, Callum Keith Rennie, Jakob Davis, Niamh Wilson, Judy Davis, Dominique Pinon
Eine Mär so ganz aus dem bunten, versponnenen Universum Jean-Pierre Jeunets, eine Geschichte wie geschaffen für ihn, und so fühlt es sich auch an, diesen Film zu sehen, zu Bild für Bild zu spüren, wieviel Liebe und Freude der Mann in dieses Projekt im Allgemeinen und diesen kleinen Knaben im Besonderen gesteckt hat.
Die Reise des zehnjährigen T.S. (S steht dabei für Sparrow, was seiner körperlichen Statur durchaus nicht unangemessen ist) von der elterlichen Farm just auf der Wasserscheide in den Rocky Mountains in Montana gelegen bis ganz weit in den Osten nach Washington D.C., wo er vom Smithsonian Institute eingeladen wurde, um einen ihm zugedachten Preis entgegenzunehmen, natürlich in der Annahme, es handele sich um einen Erwachsenen. T.S. ist ein kleines Genie, ein Exzentriker, ein Tüftler, der schon in zartem Alter profunde physikalische Experimente anstellt und schließlich ein magnetisches Rad erfindet, das dem Traum vom perpetuum mobile bislang am nächsten zu kommen scheint. Leider wird der Kleine daheim nicht gerade gefördert: Die Frau Mama sammelt lieber exotische Insekten, Paps ist ein Cowboy, der hundert Jahre zu spät geboren wurde und T.S.‘ Zwillingsbruder Layton vorzieht, weil der eher seinen väterlichen Vorstellungen vom schlichten Raufbold entspricht, und schließlich die ältere Schwester, die sich für Miss-Wahlen interessiert, Schauspielerin werden will und sonst alles um sich herum nur provinziell und öde findet. Als Layton beim Spielen in der Scheuen durch einen Gewehrschuss stirbt, geht ein Riss durch die Familie, und geplagt von Schuldgefühlen beschließt T.S., die anfänglich abgelehnte Reise in die Hauptstadt doch anzutreten. Er springt auf einen Zug, fährt per Anhalter und landet tatsächlich an der Ostküste, wo ihn zunächst das Institut und später eine Sendeanstalt mit Beschlag belegen, zumal die Geschichte von Laytons tragischem Unfall jede Menge quotenträchtiges Potential verspricht. Von seinen Eltern in letzter Sekunde aus den Fängen des Showbiz gerettet, landet T.S. glücklich wieder auf heimatlicher Erde, wohin er gehört und wo der Familie schon bald ein neues Mitglied begrüßen kann (Frucht einer vorübergehenden Aussöhnung der Eltern).
Man erwarte bitte keine profunden Aussagen über Leben und Tod, jedenfalls keine, die über das typische, in der US-Literatur haufenweise vorzufindende Maß hinausgehen. Macht aber nichts, denn wenn der Gestalter Jeunet heißt, sind die Attraktion eh anderswo verortet: Ein wunderschön verspielter, komischer, trauriger, skurriler, zärtlicher Film mit zwischenzeitlichem Hang zur Satire, vorgetragen von kongenialen Darstellern, gewandet in schier überwältigend leuchtende Bilder, die eine ganz altmodische Sehnsucht nach dem weiten Westen verraten. Jeunet findet sich auf dem fremden Terrain sofort zurecht, weil es eben nur scheinbar fremd ist, denn seine Liebe zu eigensinnigen, durch und durch integren Außenseitern hat ihn seit jeher umgetrieben, weswegen es fast wurscht ist, ob dies nun Franzosen oder wie in diesem Fall US-Amerikaner sind. Der humorlosen, verbiesterten Welt der erwachsenen und des Establishment begegnet er nach wie vor distanziert, voller Misstrauen und Spott, und den fröhlich fabulierenden Ton des Autors setzt er mühelos wie kein zweiter in Bild und Ton um. Schräge Tricks und Gimmicks dürfen natürlich nicht fehlen, Dominique Pinon schon gar nicht, und Mme Bonham-Carter könnte fast eine Hommage an Tim Burton sein, eine Art Bruder im Geiste, höchstens vielleicht mit einer dunkleren Schattierung. Hier wird auch das Schwere stets durch die Gewissheit überspielt, dass alles gut werden wird, auch wenn die Vorzeichen zunächst ganz und gar nicht darauf hindeuten, doch schlägt Jeunet von Anfang an einen Ton an, der einfach gar nichts anderes zulässt. Seine Sympathie für den spillerigen Sonderling T.S. ist ebenso tief empfunden wie die für all die anderen merkwürdigen Gestalten, die auch auf dem Weg nach Osten keineswegs abnehmen, sie werden halt nur etwas neurotischer im Vergleich zu den Landeiern draußen in den Rockies. Wirklich bös wird’s nie, und wieso auch, wenn die Grundstimmung auf friedlich eingestellt ist. Dies ist ganz und gar ein Jeunet-Film, einer seiner schönsten zudem, und mag man auch bemängeln, dass er im Vergleich zu seinen frühen französischen Filmen ein wenig seicht geworden ist – treu geblieben isser sich allemal doch. (12.8.)