Im Labyrinth des Schweigens von Giulio Ricciarelli. BRD, 2014. Alexander Fehling, André Szymanski, Friederike Becht, Gert Voss, Johann von Bülow, Johannes Krisch, Robert Hunger-Bühler
Bei Tageslicht besehen war der erste Frankfurter Auschwitzprozess 1963 ein Witz. Nach beinahe fünf Jahren zähester Vorbereitung hatte man nicht mehr als zwanzig Angeklagte vor Gericht bringen können, und geschlagene anderthalb Jahre lang hörte man von ihnen nichts als genau die gleichen einfältigen bis dreisten Ausweichmanöver und Lügen wie sie beispielsweise ein paar Jahre zuvor von Eichmann in Jerusalem zu vernehmen waren. Ehrenwerte Bürokraten, aufrechte Mitbürger saßen dort, die sich einfach nicht vorstellen konnten, wieso sie nun für etwas zur Rechenschaft gezogen werden sollten, was ihnen dereinst befohlen worden war. Wer eine einzige aufrichtige Aussage oder gar so etwas wie Schuldbewusstsein erwartet hatte, sah sich in den anzugtragenden Monstren getäuscht. Die erschütternden Zeugenaussagen standen immer in wahnwitzigem Kontrast zur biederen Fassade der Massenmörder und den teilweise reichlich moderaten Urteilen (in nicht mal einem Drittel der Fälle wurde lebenslänglich verhängt). Das unfassbar grauenhafte Verbrechen Auschwitz im Ganzen ist niemals angemessen gesühnt worden, keine Frage, dennoch war ein beispielgebendes Signal gesetzt worden. Der Krieg war seit zwanzig Jahren vorüber, und endlich begann so etwas wie eine juristische Aufarbeitung
Dieser Film beschäftigt sich mit der Vorgeschichte des ersten Prozesses ab 1958. Einer der Initiatoren ist der umtriebige, unbequeme Journalist Thomas Gnielka, der immer wieder versucht, Ignoranz und Unwissen in Bezug auf die Verbrechen der Nazis anzuprangern und der durch einen befreundeten Auschwitzüberlebenden schließlich in den Besitz von brisanten Unterlagen kommt, Erschießungslisten beispielsweise, die erstmals die Namen der Täter verzeichnen. Er kann einen jungen Staatsanwalt für das Thema interessieren und der wiederum gerät ins Visier des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, der maßgeblich dafür sorgt, dass die umfangreichen Recherchen überhaupt stattfinden und trotz zahlreicher Behinderungsversuche zu Ende geführt werden können. Aus der Sicht des erwähnten jungen Kollegen Johann Radmann, der die Ermittlungen leitet, während Bauer eher im Hintergrund agiert, ergeben sich zwei Leitmotive, die das emotionale Gerüst dieser ebenso faszinierenden wie vielsagenden Geschichte bilden. Zum einen die wachsende Fassungslosigkeit, die ihn befällt, als er Einblick in das ganze Ausmaß der Verbrechen im KZ erhält, und die sich immer auch mit Scham darüber mischt, dass er zuvor nie wirklich etwas gewusst, sich nie wirklich interessiert hat, wie die meisten seiner Zeit auch. Womit bereits zum zweiten Motiv übergeleitet wäre: Nachkriegsdeutschland und die ausstehende Aufarbeitung der Nazizeit – zwei Pole, die sich konsequent abstießen. Aus den Rundfunklautsprechern schallt Vico Torriani, die neue Vespa und der neue Opel werden stolz zur Schau gestellt, der Blick wird strikt nach vorn gerichtet, von allerhöchster Stelle wird angeordnet, dass unter die Zeit vor 1945 ein dicker Schlussstrich gezogen werden müsse, und so findet es auch kaum jemand ernsthaft anstößig, dass viele tausend Nazis, ob Mörder, Helfershelfer oder „nur“ Mitläufer, sich nahtlos in die neue Wirtschaftswundergemeinschaft einfügen, vielfach an exponierter Stelle als Juristen, Ärzte, Beamte. Niemand, so scheint es, ist daran interessiert, die Opfer von damals zu hören, die Täter und ihre Taten zu benennen, und zwar im Detail zu benennen und sie dafür zur Verantwortung zu ziehen. Damals war halt Krieg, eine andere Zeit, und die sollte nun endgültig vorbei und vergessen sein. Inmitten dieser bunten Behaglichkeit stößt Radmann mit seinen zunehmend insistierenden Nachforschungen auf vielfältigste Formen der Ablehnung, mal herablassenden Spott, mal offene Drohung, und er wird in jedweder Form behindert, belogen, boykottiert, auch aus eigenen Reihen. Es gibt gar Behörden wie das LKA, die ganz offenen von fehlender Loyalität reden, als er verlangt, Mengele und Eichmann in Südamerika festnehmen und in die BRD überführen zu lassen. Radmann verbeißt sich zunehmend obsessiv in seine Aufgabe, wird vor allem von der Figur Mengeles regelrecht verfolgt, wobei Bauer ihn mehrmals wieder in die Spur setzen muss, und seine Tätigkeit erfährt noch einmal eine ganz neue Dynamik, als er erfährt, dass auch sein eigener Vater in der Partei war, was er zuvor natürlich stets negiert hatte. Aber sein Leitsatz bleibt bestehen: Ich will, dass das Schweigen und die Lügen endlich aufhören. Dafür bringt er selbst einige Opfer, doch am Ende kommt der erste von mehreren Auschwitzprozessen zustande.
Verhältnismäßig konventionell strukturiert und erzählt, hat mich der Film dennoch durchgehend beeindruckt und gefesselt. Das komplexe Thema wird mit solcher Spannung und Intensität aufgearbeitet, dass man glatt über Merkmale des gewöhnlichen Ausstattungskinos hinwegsehen kann. Darstellerisch ist das ohnehin äußerst stark, und wenn es den meisten Charakteren auch ein wenig am Unterbau mangeln mag, so machen die Schauspieler dies mit ihrer Präsenz mehr als wett. Wie gut der Film ist, sehe ich daran, dass mich Ereignisse und Themen berühren, die heutzutage nicht mehr sonderlich virulent sind, zumal sie sich auf eine sehr spezifische historische Periode beziehen, nämlich die Restauration nach dem Krieg, die ja weitgehend nur auf Kosten einer schnellen und gründlichen Aufarbeitung der Nazizeit gelingen konnte, sowohl in politischer als auch gesellschaftlicher Hinsicht. Es gibt hier ein paar sehr prägnante Szenen und Typen, die genau für diesen Vorgang stehen, und die Empörung und Wut darüber wirkt auch jetzt noch auf Kinopublikum, wie ich auch an den Reaktionen meiner Mitseher hören konnte, und wenn ein Film anno 2014 so wirken kann, ohne dabei je auf platte Manipulationstricks verfallen zu müssen, dann muss er seine Qualitäten haben. Und die hat er – dies ist tatsächlich Qualitätskino auf höchstem Niveau, spannend, aussagestark, intensiv. (24.11.)