Imagine von Andrzej Jakimowski. Polen/England/Portugal/Frankreich, 2012. Edward Hogg, Alexandra Maria Lara, Francis Frappat, Melchior Derouet
Eigentlich ist es ja völlig paradox, einen Film über Blinde zu machen, sich in einem stark visuellen Medium auseinander zu setzen mit den Versuchen der Blinden, sich in der Welt zurecht zu finden, die sie eben nicht sehen können. Vielfach dient das Handicap ja nur als Katalysator für irgendeine Romanze oder einen effektvollen Krimi, selten genug kommt es zu einer ernsthaften Konfrontation mit den Symptomen und Folgen, die die Blindheit selbst betreffen. Dies hier ist so ein Film, mit ganz einfachen Mittel und vielen Laien in Lissabon gedreht und ein sehr schönes Beispiel dafür, wie man ungewöhnliche Inhalte auch so rüberbringen kann, dass das arme Publikum nicht unter dem Gewicht in die Knie geht.
Ian kommt als neuer Lehrer an eine Privatschule für Blinde in Lissabon. Seine Pädagogik ist unorthodox und spaltet die Gemüter. Er ermutigt die Schüler, häufig junge Kinder, dazu, die unvermeidlichen Blindenstöcke liegen zu lassen und sich lieber auf die restlichen Sinnesorgane zu verlassen, sie so zu schulen und zu schärfen, dass sie sich auch so orientieren können. Er selbst nimmt Gerüche, Geräusche zu Hilfe, nutzt Echos, indem er Schnalzlaute oder laut klickende Absätze einsetzt, und er hat es so zu einer ungewöhnlichen Autonomie und Freiheit gebracht. Dies ist seine Botschaft, und es scheint auch, als könne er seine Schüler mitziehen und inspirieren, doch kommen zwischendurch immer wieder Zweifel an seiner Seriosität auf, und als er ein paar Schüler in einige riskante Ausflüge verwickelt, sieht der Schulleiter keine andere Möglichkeit, als ihn wieder zu entlassen. Immerhin ist es ihm gelungen, die junge Eva aus ihrem Mauseloch zu locken, und am Ende sieht es gar so aus, als könne sich zwischen den beiden eine zarte Bande anbahnen.
Jakimowski, der mich vor vielen Jahren mit „Kleine Tricks“ begeisterte, nähert sich seinem Themen und seinen Personen mit Humor und Zuneigung, Geduld und Ernsthaftigkeit, und ihm gelingt es, sich völlig unaufdringlich und dennoch sehr intensiv mit der Perspektive der Blinden zu beschäftigen. Er rückt teilweise sehr nahe an sie heran, zeigt den Unterricht, zeigt ihre Übungen, ihre Auseinandersetzungen, auch ihre Schwierigkeiten und Rückschläge. Ian rüttelt sie einerseits auf, weckt ihre Neugier, ihren Ehrgeiz, doch er verängstigt auch, macht misstrauisch. Seine fast unheimliche Fähigkeit, sich allein vermittels Schallwellen in Räumen zurechtzufinden, stößt auf Bewunderung aber auch auf Abwehr oder Neid. Mehrmals ertappt Eva ihn dabei, dass er Tricks anwendet, die bei Tageslicht besehen nicht ganz seriös sind, und auch wir sehenden Zuschauer können nie ganz sicher sein, ob er mit offenen Karten spielt. Das riesengroße Kreuzfahrtschiff, das am Schluss plötzlich hinter einer Häuserzeile mitten in der Stadt vorüberzufahren scheint, deutet in die gleiche Richtung wie der Filmtitel, doch es fragt sich wiederum, ob Ian damit schon diskreditiert wird, denn sein Appell geht vor allem in die Richtung, die Wahrnehmung und Phantasie zu stimulieren, sich zu befreien von vielen Ängsten und Restriktionen, die für Blinde nicht mehr zwangsläufig gelten müssen. Der Schulleiter möchte jeden Schüler nur mit einem Stock losschicken, schon aus Angst davor, dass der Ruf der Einrichtung leidet und die Finanzierung womöglich in Gefahr gerät. Sicherheit geht damit vor Selbstentfaltung und dem Wunsch, mehr am „wirklichen“ Alltagsleben teilnehmen zu können, und das sind gerade die Dinge, um die es Ian geht, weswegen der Bruch mit der Schule unvermeidlich ist.
Zarte Poesie und zum Teil durchaus burleske Situationskomik prägen vor allem jene Szenen, in dem Ian zusammen mit Eva oder Serrano, einem weiteren Schüler, die Straßen und Plätze der Stadt erkundet. Jakimowski führt dabei die Kamera so, dass wir Zuschauer den Blinden selten oder nie voraus sind, denn auch wir haben keinen richtigen Überblick, erfassen nicht das ganze Bild, sehen nicht, was von vorn oder von der Seite kommt, sehen auch nie, ob da nun ein großes Schiff am Kai liegt oder nicht, oder ob es überhaupt einen Kai gibt, was durchaus fraglich bleibt. Es geht nicht darum, was tatsächlich ist, sondern was sich in der Vorstellung der Blinden abspielt, was sie hören, riechen, erfühlen, allgemein wahrnehmen. So rigoros und konsequent hat sich wohl noch kein Film auf diese Perspektive eingelassen, und auch wenn Jakimowski dies nicht durchgehend tut, sind die bewussten ausführlichen Szenen dennoch äußerst spannend, anregend und zum Teil sehr verblüffend. Hinzu kommt eine sehr detaillierte Tonspur, die Ians Ausführungen wirkungsvoll untermauert, und wenn man nachher wieder rausgeht ins wahre Leben, mag man sich vielleicht dazu aufgefordert fühlen, die vielen vernachlässigten Sinne, die es rund ums Sehen auch noch gibt, mal wieder ein bisschen zu trainieren. Eine ebenso originelle wie eindrucksvolle Inspiration bietet „Imagine“ allemal. (8.1.)