Jimmy’s Hall von Ken Loach. Irland/England/Frankreich, 2014. Barry Ward, Simone Kirby, Jim Norton, Aislin Franciosi, Aileen Henry, Andrew Scott

   In seinem möglicherweise letzten langen Spielfilm zieht’s Mr. Ken noch mal nach Irland, dorthin also, wo man den vergeblichen Kampf aufrechter Demokraten und Idealisten für ein wenig Freiheit am eindrücklichsten nachvollziehen kann. Ein Land, das viele traurige und tragische Helden hervorbrachte, ein Land, das bis weit ins 20. Jahrhundert, eigentlich bis heute, unter mittelalterlich anmutenden Strukturen und Verkrustungen zu leiden hat, und daran hat auch kein Wirtschaftsboom irgendetwas geändert. Dieser Boom nämlich ist längst vorüber, das Mittelalter aber ist noch immer da.

   Im Jahre 1932 war es noch viel mehr da. Da kehrt Jimmy Gralton nach Leitrim in die Heimat zurück, nach zehnjährigem Exil in New York. Dorthin musste er fliehen vor dem Bürgerkrieg von 1920/21, vor der Verfolgung durch englandnahe Gruppierungen, vor der katholischen Kirche (siehe auch: Mittelalter) und auch der IRA, die den linksgerichteten unangepassten und unbequemen Mann ebenfalls suspekt fanden. Populär war damals Jimmys Tanzhalle, ein Schuppen, in dem sich Menschen trafen und musizierten, tanzten, lernten, malten, Spaß hatten, aber auch politisches Bewusstsein übten. Nun ist Jimmy also wieder da u das Land befindet sich in einer Art Vakuum, der totalen Paralyse, einem faktisch nicht existenten Frieden. Die Befürworter des Anglo-Irish Treaty haben sich durchgesetzt, de Valera ist Ministerpräsident, die Kirche sitzt wieder schön fett im Sattel und im Hintergrund haben die Brits alles schön in der Hand. Die IRA versucht irgendwie, ihr Gesicht nicht zu verlieren, eine Position zu finden und wenigstens ein kleines bisschen Einfluss zu ergattern, und die Gruppe um Jimmy Gralton ist im drögen ländlichen Alltag zwischen Torfstechen und Kartoffelernte versprengt. Trotzdem finden sich ein paar junge Leute, die Jimmy anstacheln, den alten Schuppen wieder auf Vordermann zu bringen und da weiterzumachen, wo er vor vielen Jahren gezwungenermaßen aufhören musste. Und da Jimmy im Kern immer noch der gleiche ist wie einst, lässt er sich auch nicht allzu lange bitten, zumal da ja noch Oonagh ist, die er einst verließ, die er aber immer noch liebt.

   Mittelalter herrscht in Irland zu dieser Zeit vor allem aus zwei Gründen: Die noch immer fortbestehende furchtbare Dominanz der katholischen Kirche, die sich einfach jeder fortschrittlichen Bewegung in den Weg steht, stets der Reaktion das Wort redet und sich zu diesem Zwecke nie gescheut hat, sich opportunistisch jedwedem Herrscher anzudienen, wenn‘s nur er eigenen Machterhaltung diente. Und das ebenfalls fortbestehende jahrhundertealte System der Großgrundbesitzer und der kleinen Pächter, die in hoffnungsloser Abhängigkeit stets am Rande des Minimums leben und willkürlich jederzeit von ihrem kleinen Stückchen Land vertrieben werden können, so wie es tausendfach geschehen ist, wovon noch heute entvölkerte Landstriche und zurückgelassene Ruinen Zeugnis ablegen. Billys Kampf gilt diesen beiden Dingen und er gilt einem weiteren Faktor, der in der irischen Kolonialgeschichte immer von entscheidender Bedeutung war: Kulturelle Identität. Sein Tanzschuppen ist in vieler Hinsicht eine Fortführung der alten Hedge Schools, die schon damals dazu dienten, die Reste irischer Kultur vor dem brutalen Zugriff der britischen Kolonialtyrannen zu schützen – Sprache, Literatur, Traditionen, eben auch Dinge wie Musik und Tanz. Ein Symbol des Widerstandes, der Subversion, des Willens, sich nicht vollkommen entmündigen lassen zu wollen. Indem Billy seinen Tanzsaal wieder öffnet, setzt er ein klares Zeichen genau in diese Richtung, nur dass dieses Zeichen in der gegenwärtigen Situation niemandem in den Kram passt. Er lässt sich nirgendwo einsortieren, lässt sich von niemandem vor den Karren spannen, legt sich sofort wieder mit Kirche, Brits und IRA an, die gleichen Konflikte wie vor zehn Jahren brechen augenblicklich wieder aus. Auch dies ein klarer Hinweis auf die extrem prekäre und alles andere als stabile Situation in Irland und auf die lähmende Stagnation, die auf politischer Ebene herrschte. Am Schluss wird er wieder Opfer dieser Stagnation: Erneut muss er das Land verlassen, diesmal für immer, erneut muss er sich für Oonagh trennen. Immerhin hat er ein paar Leute hinterlassen, die seine Ideale womöglich weiter tragen, und ein jüngerer Kirchenmann lässt ebenfalls Ansätze zu anderen, neuen Gedanken erkennen, doch zunächst einmal haben Repression und Reaktion die Oberhand behalten.

 

   Noch einmal zieht Loach in diesem sowieso ziemlich unpathetischen Film einen eher nüchternen Strich unter seine Geschichte, noch einmal lässt er dennoch keinen Zweifel daran, dass andere Dinge zählen: Jimmy Gralton hat’s versucht, hat gekämpft, hat sich engagiert, hat Position bezogen, stand zu seinen Überzeugungen und hat sie bis zuletzt konsequent verfochten. Er scheiterte äußerlich an übermächtigen Feinden, doch seine Integrität, seinen Stolz hat er nicht verloren, und genau diesen Leuten hat seit jeher Loachs Solidarität gegolten. Auch dieser Film ist ein Bekenntnis zum (meinetwegen linken) Idealismus, der allen Widerständen trotzt und der vielleicht auf ganze lange Sicht auch einmal zu Veränderungen beitragen wird. Der Kampf für Freiheit, Unabhängigkeit und Emanzipation lohnt sich immer, egal unter welchen Umständen, und Loach hat nie aufgehört, sich dafür auszusprechen, auch wenn er stets Realist genug war, auch von den Niederlagen zu erzählen. Zigmal hat er sich dafür als naiver linker Träumer beschimpfen lassen müssen – und natürlich ist sein Kino nicht das Kino der Coolcats, das sind jene Leute, die alles ganz genau wissen und die so klug sind, das sie nichts erklärt bekommen müssen. Auch „Jimmy Hall“ wird für seine undifferenzierte Schwarzweißmalerei gerügt, und ich habe wirklich versucht, den Film kritisch zu sehen, ich hab’s nicht geschafft. Im Gegenteil hat sich Loach bemüht, die hoffnungslos komplizierte und verfahrene politische Gemengelage in Irland einigermaßen nachvollziehbar abzubilden, wie es ihm schon in „The wind that shakes the barley“ vor acht Jahren gelungen war. Dass er sich dabei klar und deutlich auf eine Seite schlägt und die anderen als die Bösen zeigt, kann ich ihm nicht übelnehmen, denn erstens bin ich in der Sache total seiner Ansicht, und zweitens ist und war er stets ein Filmemacher, der Position bezogen, eine eigene Meinung vertraten hat. Wer ihm das übelnimmt, hat Loach nicht verstanden und braucht seine Filme auch nicht zu sehen. Dies ist Meinungskino, das vom Zuschauer verlangt, sich eine eigene zu bilden und zudem in der Lage zu sein, diese eigene Meinung mit der im Film vertretenen abzugleichen, und das ist etwas völlig anderes als die oft und gern ins Spiel gebrachte Bevormundung oder dergleichen. Loach hat nie verlangt, dass man sich ihm blindlings anschließt, er hat lediglich seine Argumente vorgetragen und erwartet, dass man sich mit ihnen beschäftigt, sich auseinandersetzt, in eine Diskussion kommt. Mehr nicht. Oldschool? Meinetwegen, könnte mich nicht weniger kratzen. Für mich sind Loachs Filme essentiell, unverzichtbar, und ich kenne kaum einen anderen Filmemacher, der über so viele Jahre ein derart geschlossenes, konsistentes und konsequentes Werk geschaffen hat wie er. Und falls „Jimmy’s Hall“ tatsächlich ein Schlusspunkt sein sollte, so ist es in jedem Fall ein würdiger geworden, selbst wenn es wohl nicht sein bester ist. Mein ewiger Mitstreiter und ich mögen in vielen Dingen uneinig sein, in diesem einen Punkt waren wir stets d’accord: Ohne den Ken geht es eigentlich nicht. Und nun muss es wohl ohne ihn gehen – aber wie nur? (19.8.)