Lauf Junge lauf von Pepe Danquart. BRD/Frankreich/Polen, 2013. Andrzey Tkacz, Kamil Tkacz, Elisabeth Duda, Jeannette Hain, Rainer Bock, Zbigniew Zamachowski, Grazyna Szapolowska, Itay Tiran, Natalia Wajs

   Er läuft und läuft, der Junge, der erst Srulik heißt und später Jurek. Vom Winter 1942/43 bis hin zum Frühjahr 1945, wo es endlich vorbei ist. Aus dem Warschauer Ghetto in die Wälder, Sümpfe, über die Felder, in kleine Dörfer, auf kleine und große Höfe. Meistens allein, nur ganz kurz in Gesellschaft anderer versprengter jüdischer Kinder. Er wird gejagt, verfolgt, verraten, buchstäblich auch verkauft, verprügelt, beschossen, er verliert seinen Vater, seine Familie, seinen linken Arm, er erfährt Zuneigung und Hass, Freundschaft und Verrat, Barmherzigkeit und Unbarmherzigkeit, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, in zweieinhalb kurzen Jahren mehr, als die meisten Menschen im ganzen Leben. Aus dem jüdischen Jungen Srulik wird der christliche Junge Jurek, der fehlerfrei beten kann, und der doch immer wieder als Jude geoutet wird, der sich letztlich auch dafür entscheidet, wieder Jude sein zu wollen, und dem sein Vater im Moment ihres Abschieds mit auf den Weg gab: Zu kannst alles vergessen, deinen Namen, sogar deine Mutter und mich, du darfst nur niemals vergessen, dass du Jude bist.

   Vor allem aufgrund dieses unerhört eindringlich vorgetragenen Appells ist dies mehr als nur die Geschichte eines Jungen (und wieder mal ist es mir persönlich völlig wurscht, ob sie auf einer tatsächlichen Biografie beruht oder nicht), es ist die Geschichte des ganzen jüdischen Volkes (vor allem natürlich der osteuropäischen Juden), das sich auch im Angesicht fanatischster Verfolgung und Vernichtung seiner Wurzeln besinnt und vielleicht auch deshalb fortbestehen konnte an einem neuen Ort, den auch Srulik später aufsucht, in den 60ern, als er nach Israel zieht und dort eine Familie gründet. Der Kern dieses unglaublichen Überlebenswillens bleibt unerforscht und auch unerforschlich. Ist es der Glaube, ist es das Festhalten an der eigenen Identität, am familiären, kulturellen Ursprung, oder ist es einfach ein menschlicher Urinstinkt, immer weiter zu laufen, nicht aufzugeben. Sich auch dann noch ans Leben zu halten, wenn kaum noch was davon übrig geblieben ist, wenn vor allem nichts mehr da ist, für das es sich zu leben lohnte? Dieses Motiv durchzieht den Film über weite Strecken, und die sind dann auch die eindrucksvollsten in einer Geschichte, die vielleicht ein Stückchen zu lang hingestreckt wird, vor allem im letzten Drittel, das aber immerhin die spannende Frage enthält, was mit dem Jungen passieren wird. Er wird ein weiteres, ein letztes Mal verraten, diesmal aber wohl nicht mit böser Absicht, sondern im Gegenteil. Ein Mitarbeiter des jüdischen Waisenhauses kommt aus Warschau und versucht Srulik dafür zu gewinnen, mit zu machen beim Wiederaufbau der Zukunft. Kann also auch Jurek wieder Srulik werden, und wie entscheidet er sich, als das Auto an der Gabelung ankommt – links geht’s in die Vergangenheit im Kreis einer liebevollen polnischen Bauernfamilie, rechts geht’s nach Warschau ins Waisenhaus, aber auch in die Zukunft.

   Davor erleben wir anderthalb aufwühlende, ergreifende, manchmal grausame, manchmal auch wieder tröstende Stunden mit Jurek auf der Flucht durch ein besetztes, zerstörtes Land, in dem Menschen und ihr Leben nichts mehr wert sind, erniedrigt, in den Dreck getreten und ausgeliefert der furchtbaren Willkür der deutschen Tyrannen. Verrat und Vernichtung von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf sind allgegenwärtig, allein die zum Teil von Partisanen beherrschten Wälder sind möglicherweise ein sicherer Rückzugsort, und es wird sehr deutlich darauf hingewiesen, dass es genug Denunzianten, Kollaborateure, Opportunisten und vor allem Antisemiten gab, die den deutschen Mördern zuarbeiteten und daran beteiligt waren, die deutsche „Mission“ in Osteuropa so „effektiv“ umzusetzen. Türen werden zugeschlagen, wenige nur geöffnet, und nicht jeder scheinbar freundlichen Geste liegt auch eine freundliche Absicht zugrunde. Zusammen mit Jurek werden wir hin- und hergerissen zwischen Hoffen und Bangen, echter Anteilnahme und auch Bewunderung für diesen faszinierend tapferen, zähen Kämpfer, der unmenschliches durchsteht, der aber auch daran erinnert, dass viele andere neben ihm ähnlich unmenschliches überlebt haben.

 

   Dieser humanistische Aspekt ist für mich unzweifelhaft und kommt sehr deutlich und stark zum Tragen. Wessen ich mir hingegen nicht ganz so sicher bin, ist die künstlerische Umsetzung, die ich glaube ich nicht in allen Teilen gleichermaßen gelungen finde. Verdächtig allein schon ist eine fast ständig präsente und gelegentlich auch recht aufdringliche Musik, die in diesem Fall besonders überflüssig ist, da die Geschichte, die Bilder, die Situationen nun wirklich keiner künstlichen Gefühlsverstärker bedürfen. Danquart neigt leider dazu, ein wenig dicker aufzutragen als nötig wäre, so als vertraue er der Kraft der Geschichte nicht, was ich nicht recht verstehe. Er hat einen großartigen Hauptdarsteller (oder besser gesagt zwei), ein im Kern starkes Drehbuch mit einer sehr eindrucksvollen und nachhaltigen Aussage, wozu dann also diese Neigung zu unnötigen optischen und akustischen Effekten? (Fast scheint es, als habe ein Kinokollege Recht, der mal sagte, wenn ARD Degeto im Abspann steht, hat das nichts Gutes zu bedeuten…) Natürlich haben für mich die Stärken überwogen und ich war weitgehend schon beeindruckt und bewegt, habe zwischendurch aber immer mal gedacht, weniger wäre jetzt mehr. Heißt insgesamt: Hier wäre noch mehr drin gewesen, denn auf groß getrimmtes Kino ist nicht immer großes Kino. (29.4.)