Le passé von Asghar Farhadi. Frankreich/Italien, 2013. Ali Mosaffa, Bérénice Bejo, Tahar Rahim, Pauline Burlet, Elyes Aguis, Jeanne Jestin, Sabrina Ouazani, Babak Karimi
In seinem meisterhaften « Nader und Simin » zwingt uns Asghar Farhadi unerbittlich dazu, zwei Stunden lang zuzusehen, wie sich eine Ehepaar, eigentlich aber nur der Ehemann, unaufhaltsam selbst in den Abgrund zieht. In dem nicht weniger meisterhaften „Le passé“ verwendet er wiederum zwei Stunden darauf, uns mit einer kleinen Handvoll Menschen zu konfrontieren, sie unentwegt damit beschäftigt sind, einen Weg aus der Vergangenheit hinaus und in die Gegenwart und vor allem die Zukunft zu finden. Klar, dass dies ein unendlich mühsamer, hindernisreicher und über den Schluss des Films hinaus sehr unsicherer Weg ist. Klar auch, dass einfache Lösungen und Botschaften hier vergeblich gesucht werden – nichts ist hier einfach, alles ist ein Ringen und Mühen, eine andauernde Auseinandersetzung, vor allem mit sich selbst, dem, was man vielleicht einmal getan hat und für dessen Folgen man nun die Verantwortung übernehmen müsste – Konjunktiv, wohlgemerkt.
Marie, Mutter zweier Kinder, eine Frau mit wechselhafter Vergangenheit, ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte. Ihre beiden Kinder stammen offensichtlich aus einer früheren Ehe, die gescheitert ist. Danach war sie mit dem Iraner Ahmad verheiratet, von dem sie sich nun aber auch scheiden lassen will, um frei zu sein für die Beziehung Samir, von dem sie bereits ein Kind erwartet. Ahmad reist aus Teheran nach Paris, um die Formalitäten zu erledigen, aber auch um Maries Kinder Léa und Lucie wiederzusehen, zu denen er ein enges Verhältnis hatte. Vor allem für die 16-jährige Lucie ist er wichtig, denn sie hat dauernd Stress mit ihrer Mutter und lehnt Samir total ab, gibt ihm die Schuld am Selbstmordversuch seiner Frau, die seither im Koma liegt. Ahmad schaltet sich immer wieder als Vermittler ein, gerät darüber aber häufig in Konflikt mit Marie, deren Impulsivität und Unbeherrschtheit ihr wiederum den Zugang zu ihrer Tochter total blockiert. Samir erkennt, dass Ahmad noch immer starke Bande zu dieser Familie hat, und er wendet sich von Marie ab und stärker der Frage zu, wer oder was seine Frau letztlich in den Selbstmord getrieben hat. Lucie spielt dabei eine zentrale Rolle, auch in Maries Bemühen, ihre neue Familie zusammenzuhalten und in Ahmads Versuchen, aus Liebe zu dem Mädchen helfend einzugreifen. Ein weiteres Kind zwischen den „Fronten“ ist Samirs kleiner Sohn Fouad, der sich gut mit der ungefähr gleichaltrigen Léa versteht, der gern bei Marie lebt, aber dennoch verstehen möchte, weshalb seine eigene Mutter plötzlich nicht mehr da ist und der genau wie Lucie sichtlich darunter leidet, dass die Erwachsenen wie immer meistens mit sich selbst beschäftigt sind.
Mit täuschend einfachen Mitteln, einem klaren Kamerablick, einer gewissen, sehr diskreten aber dennoch spürbaren Distanz, sehr viel Geduld und einer wunderbar gleichmäßig verteilten Zuneigung zu allen beteiligten Personen hat Farhadi ein komplexes, wechselvolles, empfindliches und sehr emotionales Beziehungsgeflecht entworfen, das ständig zwischen Orten und Zeitebenen changiert, obwohl sich oberflächlich betrachtet die ganze Geschichte in Paris im Laufe weniger Tage zuträgt. Aber natürlich spielt Ahmads eigener kultureller Hintergrund eine starke Rolle, die Bindungen, die er nach wie vor zu seinen Landsleuten in Paris unterhält, die zwangsläufig bestehenden Unterschiede in seinen Ansichten zum Thema Familie und Geschlechterrollen. Ahmad ist weder Macho noch Islamist, und dennoch gibt es immer wieder Momente, in denen er und Marie sich grundsätzlich fremd sind und man als Zuschauer versteht, weshalb sie sich möglicherweise getrennt haben. Als eher ruhiger, geduldiger Zuhörer hat er bei Lucie leichtes Spiel, zumal Marie immer gleich in die Luft geht, wenn es mal einen Konflikt mit der älteren Tochter gibt, und sie scheinbar bislang nicht in der Lage war, der Tochter die neue Lebenssituation mit dem neuen Partner verständlich zu machen. Der Selbstmordversuch von Samirs Frau wird konsequent totgeschwiegen, bis Lucie selbst und Samirs Nachforschungen dazu führen, dass immer neue Fakten und Erklärungen zutage treten und zugleich die Balance der frisch geformten Familie total durcheinander gebracht wird. Jede der Figuren hier hat ihre Geschichte, Fehler, Irrtümer, die häufig stark in die Gegenwart hineinwirken, jede hat eigene Bedürfnisse, Sehnsüchte, Interessen, und die große Frage ist, wie man all dies so zusammenbringt, dass eine tragfähige, zukunftsfähige Verbindung daraus entstehen kann. Kurz, die Frage, die sich eigentlich immer stellt, wenn Menschen zusammenkommen, wenn neue Patchworkgebilde entstehen, Kinder aus früheren Ehen mit neuen Partnern konfrontiert werden (und umgekehrt), oder wie hier, Ex-Mann und aktueller Partner aufeinander treffen, sicherlich nicht zum größten Vergnügen der beiden, obwohl sie sich redlich Mühe geben, die Contenance zu wahren.
Farhadis Film ist so großartig, weil er jeder Figur ihre Würde lässt, weil er jeder mit Zuneigung, Neugier und Offenheit begegnet, weil jede Figur perfekt besetzt und gespielt wird und weil die Kamera die jeweiligen Lebensräume mit soviel Aufmerksamkeit und Sensibilität trifft. Wie in „Nader und Simin“ spielt sich das Drama eher still ab, finden große Exzesse und Szenen nicht statt, und dennoch bleibt immer der Eindruck, dass es hier um ganz essentielle Dinge des Lebens geht, die vollkommen ernsthaft verhandelt werden, nicht trivialisiert, auch nicht dramatisiert werden. Selten hat ein Film so eindrucksvoll gezeigt, wie hart die Leute oft darum kämpfen müssen, miteinander zurechtzukommen und ihren jeweiligen Platz in den verschiedenen Systemen zu finden. (11.2.)