Lügen und andere Wahrheiten von Vanessa Jopp. BRD, 2014. Meret Becker, Thomas Heinze, Jeanette Hain, Florian David Fitz, Alina Levshin, Lilith Stangenberg, Ilja Pletner, Elisabeth Trissenaar
Filmtitel und –plakat verheißen nichts Gutes – doch wer diese Wohlfühl-Hürden nimmt, wird’s nicht bereuen. Vanessa Jopp hat schon in dem ebenfalls äußerst sehenswerten „Komm näher“ vor Jahren gezeigt, wie mitreißend sie Großstadtgeschichten zu einem tragikomischen Reigen verknüpfen kann, und „Lügen und Wahrheiten“ erreicht diese Qualität in jeder Hinsicht auch. Damals war‘s Berlin, diesmal Bremen, im Zentrum stehen wiederum eine Handvoll Menschen, die ihr Leben irgendwie nicht so recht auf die Reihe kriegen. Wie der Titel dann doch ganz richtig andeutet, geht’s diesmal im Kern um Lügen, um Misstrauen, Lebenslügen im Großen und Kleinen, und es ist abwechselnd amüsant und auch traurig mitanzusehen, wie viele Variationen diesem Thema abzugewinnen sind, wobei der Sprung zu den eigenen Lügen immer nur ein ganz kleiner ist.
Die in nächster Zukunft zu schließende ehe zwischen Coco und Carlos ist vermutlich die größte Lüge hier. Die Zahnärztin kann überhaupt niemandem vertrauen, erstrecht nicht ihrem potentiell windigen Verlobten, einem ständig klammen Immobilienmakler mit lebhafter Vergangenheit, der sich folgerichtig immer wieder in Ausflüchte und Unwahrheiten verstrickt, um die Geliebte nicht zu verlieren. Cocos Freundin, die Künstlerin Patti, macht auf authentisch, gefühlsecht und alternativ, kann aber weder als Malerin noch als Frau irgendwo richtig landen, und ihre neueste Ausstellung mit überlebensgroßen Muschibildern, die fortan in Cocos Praxis hängen, wird aller Voraussicht nach auch kein Erfolg. Coco und Patti haben einen gemeinsamen Yogalehrer, dem sie huldigen, wie übrigens noch viele andere Damen, doch unter seiner milden, wiesen Schlage verbirgt Andi zahllose unkontrollierbare Aggressionen, die sich früher oder später die Bahn brechen werden. Cocos Praxishelferin Vera schließlich kriegt Besuch von ihrem Bruder, der ihr Vorwürfe macht, dass sie nicht mehr genug Geld nach Hause schickt und der ihr eine hässliche Lügengeschichte vom schwerkranken Vater daheim in Russland auftischt, worauf sie alle Register zieht, um in kürzester Zeit Kohle für eine angebliche Operation zusammenzukriegen.
Alle diese Lügen werden früher oder später ans Licht kommen, alle Blasen platzen, alle Truggebilde einstürzen, manchmal wird es eine erleichternde Klärung geben, aus der tatsächlich etwas Positives erwachsen könnte, manchmal aber ist die Wahrheit auch lähmend und ernüchternd. Es kommt eben immer drauf an, und so verhält es sich auch mit den Lügen: Manche erleichtern das Leben, sind entschuldbar, können auch als Schutz dienen, andere wiederum verletzen, verschleiern, verzögern, können aber das Unvermeidlich doch nicht verhindern, und oft wirkt sich dieses Unvermeidliche umso schlimmer aus, je länger es sich aufgestaut hat. Kennen wir alle, wissen wir alle, hält uns aber keinesfalls davon ab, weiter zu lügen und umgekehrt weiter zu misstrauen, weil es einfach in unserer Natur liegt, weil die sprichwörtliche Angst vor der Wahrheit so dominant ist und weil es im wirklichen Leben leider auch nur selten geschieht, dass wir für unsere Ehrlichkeit anerkannt werden.
Vanessa Jopp bewegt sich wie gesagt sehr gekonnt zwischen Ernst und Komik, wobei erstgenannter für mein Gefühl deutlich überwiegt, vor allem gegen Ende, als sich alle Beteiligten so gründlich verstrickt und verzettelt haben, dass eigentlich nur ein großer Knall helfen kann. Der kommt dann immerhin schön differenziert daher, mal als groteske Hochzeitsfahrt mit verheultem Eyeliner, mal als Hilfeschrei in Form eines Selbstmordversuchs (dieser sogar zweimal!), mal als hilfloser, physisch ausgelebter Wutausbruch mit tiefgreifenden Folgen. So kommt es, dass hier niemand der Lächerlichkeit preisgegeben wird, obgleich schon viel Ironie im Spiel ist, was die einzelnen Lebensentwürfe angeht, die sich häufig sehr weit von dem tatsächlich Machbaren entfernt haben – oder umgekehrt. Mal rührend, mal grotesk, mal der pure Selbstbetrug – doch wer von uns würde eine der hier beteiligten Personen dafür schon verurteilen wollen?
Ein schön pointiertes Drehbuch, ein paar nette Impressionen aus Bremen (endlich mal nicht B, HH oder M!) und vor allem ein bestens aufgelegtes Ensemble sorgen für – tja – Unterhaltung mit Tiefgang, wie das immer so schön heißt, was diesmal aber Punkt für Punkt stimmt. Und nein, dies ist kein Wohlfühlfilm… (23.9.)