Meine Schwestern von Lars Kraume. BRD, 2013. Jördis Triebel, Nina Kunzendorf, Lisa Hagmeister, Ernst Stötzner, Angela Winkler, Stephan Grossmann, Monika Hansen, Béatrice Dalle
Die große Frage wird gleich zu Beginn des Films geklärt, sodass wir uns damit im weiteren nicht mehr belasten müssen: Ja, Linda stirbt bei der risikoreichen letzten Herz-OP, sie wird auf einer Bahre in den Keller zu den andere Leichen befördert und erzählt von dort aus die Geschichte praktisch als Verstorbene. Dieser Schachzug ist entscheidend, weil er unser Augenmerk ablenkt von der bangen Ungewissheit, uns Zeit und Raum gibt, uns auf die wichtigeren Dinge zu konzentrieren, nämlich das Miteinander der Lebenden im Schatten des möglicherweise nahen Todes. Denn natürlich geht es schon irgendwie um den Tod, noch mehr aber geht es um das Leben davor.
Linda ist von Geburt an herzkrank; die Ärzte gaben ihr anfangs nur drei Monate und haben sich damit bereits um dreißig Jahre verschätzt. Kurz vor einer neuerlichen großen OP und im Gefühl ihre nachlassenden Kräfte überredet sie ihre beiden Schwestern Katharina und Clara, zusammen nach Tating zu fahren, wo die Familie früher ihre Sommerurlaube verbrachte. Daran knüpft sich ein Spontantrip nach Paris an, wo sie bei Tante und Onkel unterkommen. Hier allerdings zeigt sich Lindas bedrohlicher Zustand deutlich, und zurück in Hamburg wird sie gleich operiert, mit dem bekannten Ergebnis.
Im Zentrum stehen wie zu erwarten die drei Schwestern, ihr Verhältnis, ihre Chemie, ihre gemeinsame Geschichte, die schon immer entscheidend im Zeichen von Lindas Krankheit stand. Katharina, die ältere, hatte von Anfang an die Aufgabe, auf die kleine Schwester aufzupassen, und diese Aufgabe nimmt sie noch immer wahr. Sie hat gelernt, die eigene Befindlichkeit hintan zu stellen, nach außen ruhig, souverän, sicher zu wirken. Und nebenbei schmeißt sie selbst auch noch eine Familie mit drei Kindern, weswegen von ihr ständig Bedenken und Einwände gegen die Aktionen kommen, denn sie wähnt sich unentbehrlich. Clara, das Nesthäkchen, stand stets ganz im Schatten der beiden Großen, wurde häufig gar nicht richtig wahrgenommen und ist erwartungsgemäß die psychisch labilste der drei. Ein verschüchtertes, depressiv veranlagtes Wesen, das mit seinem Leben so gar nichts anzufangen weiß, hier ein Studium, dort ein Studium, vage künstlerische Ambitionen, aber immer mit der Gewissheit, eigentlich nichts richtig zu können. Die beiden Großen nehmen sie ebenfalls nicht recht ernst, besprechen ernste Themen gar nicht erst mit ihr, weil sie glauben, sie wolle die Welt immer nur nett und schön haben und könne keine Disharmonie ertragen. Mit dieser komplexen Disposition machen sich die drei auf den Weg von Hamburg an die Küste, danach im Zug nach Paris. Mal verbünden sich Linda und Clara, wenn es darum geht, die bockige, unwillige Katharina zu überzeugen, doch in der Regel sind sich die beiden Großen näher, das wird Clara allzu häufig bewusst. Natürlich gibt es Streit und Krisen, es gibt aber auch Nähe und Zärtlichkeit, und ganz nebenbei ringt Linda mit der Frage, ob sie sich überhaupt noch mal operieren lassen oder den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen soll, zumal ihre Lebenserwartung trotz OP ungewiss und auf jeden Fall eingeschränkt bleiben wird. Man spürt Claras Angst vor dem Thema, man spürt auch Katharinas Erschöpfung, denn nach wie vor fühlt sie sich allein verantwortlich, kommt aus dem alten Schema nicht mehr raus. Den schroffen Hinweis ihres Onkels, Linda werde eines Tages sowieso umfallen, wenn sie nicht in der Nähe sei, kontert sie ebenso klar: Ich weiß das, aber bis dahin tue ich alles was ich kann, dass Linda nichts passiert.
Diese komplexe, delikate Balance wird sensationell gut in Szene gesetzt, sowohl von Lars Kraumes toller Regie, die genau die richtigen Schwerpunkte setzt und ein fabelhaftes Gespür für Kleinigkeiten und Schwingungen zeigt, als auch von den drei grandiosen Hauptdarstellerinnen, die wirklich perfekt harmonieren und die auch vom Typ auf den Punkt gecastet wurden. Besser kann man das vermutlich nicht machen. Großen Beifall beim Kino mit Gästen erhielt auch die Kameraarbeit – zu Recht, denn sie ist wirklich erstklassig, immer ganz dicht und intim dran an den drei Schwestern, aber auch die Schauplätze wie Tating an der Nordsee oder Paris werden mit viel Gefühl und Stimmung eingefangen. Ein in allen Belangen enorm eindrucksvoller, gefühlvoller und bewegender Film, und falls ich vor ein paar Jahren vielleicht gedacht haben mag, Kraume könne sich nach „Die kommenden Tage“ nicht mehr steigern, muss ich mich hiermit eines Besseren belehren lassen, denn „Meine Schwestern“ hat mir noch ein bisschen mehr gefallen. (28.1.)