Mommy von Xavier Dolan. Kanada, 2014. Anne Dorval, Antoine-Olivier Pilon, Suzanne Clément
Ein Auto fährt los, ein vertrautes Intro, dann singt Sarah McLachlan „You come out at night, that’s when the energy comes“, beglückt kuschelt man sich in den Kinositz, dann rauscht von rechts ein anderer Wagen heran und kracht volle Pulle in die Seite und beendet diesen schönen Moment abrupt. Diese ersten zwei Minuten geben schon eine ziemlich genaue Vorstellung von den kommenden einhundertfünfunddreißig (die mir im Leben nicht so lang vorgekommen sind, obwohl die Zeit noch deutlich vorgerückter war als bei den letzten beiden Kinoabenden) – die pure Achterbahnfahrt, ein intensiver emotionaler Trip direkt ins Herz der Dinge. Die ollen Kinomystiker werden jetzt wahrscheinlich ihre Lieblingsschlagworte rauskramen und vom „Schlachtfeld des Lebens“ sprechen (prompt taucht ja auch der Name Herrn Fassbinders in einigen Rezensionen auf), aber irgendwie trifft’s die Sache auch, denn in Xavier Dolans neuestem Film geht es schon an die Essenz. Ein Dreipersonenstück über Liebe, Kampf, Verzweiflung, Hoffnung. Mutter und Sohn und dazu eine Nachbarin, die zunächst sehr unfreiwillig, dann aber tiefer und tiefer in die eigenartige Beziehung der beiden hineingezogen wird. Sohn Steve ist ein ADS-Kind mit stark aggressiver Ausprägung, ein blondgelockter Milchbubi mit großen blauen Kinderaugen und vielen Talenten, der von jetzt auf gleich total ausrasten und bösen Schaden anrichten kann, verbal und physisch. Mama Diane, nach dem frühen Tod ihres Mannes auf sich allein gestellt, schlägt sich mehr schlecht als recht mit allen möglichen Jobs durch, eckt aber zumeist schnell an, denn auch sie hält mit ihrer Meinung und ihren Gefühlen nicht gerade hinter dem Berg, eine Art alternder Provinzschönheit, die gern noch mehr aus sich und ihrem Leben machen würde. Dazu Kyla von nebenan, eine ausgebrannte Lehrerin im Sabbatjahr mit psychisch bedingter Sprechstörung, Mutter und Ehefrau, dauernd dem Job ihres Mannes hinterherziehend von Stadt zu Stadt, eine Frau, die sich selbst völlig verloren hat und durch Diane und Steve die Möglichkeit bekommt, wenigstens ein wenig zu sich zurück zu finden. Sie gibt Steve Nachhilfeunterricht, damit er endlich einen Abschluss machen und bei der Juilliard Drama School in NYC bewerben kann, was sein größter Traum ist. Sie erlebt einige Tage im Leben der beiden mit, einen beständigen Drahtseilakt zwischen Momenten intensiven Glücks und ebenso intensiver Frustration. Zu dritt machen sie sich eine nette Zeit, kochen, albern herum, tanzen zu Céline Dion (die gar nicht ironisch als kanadisches Kulturgut bezeichnet wird), machen Pläne, träumen von einer Zukunft mit Aussicht, einem guten Job, der endlich genug Geld bringt, einer Ausbildung für Steve, neuer Lebensfreude und Selbstsicherheit für Kyla. Dann kommt ein Schreiben ins Haus, worin Diane zur Zahlung einer exorbitanten Entschädigungssumme aufgefordert wird, dann Steve hatte in seiner letzten Einrichtung Feuer gelegt und ein Junge war schwer verletzt worden. Damit ist für Mutter und Sohn eine ganz kurze Phase trügerischer Zufriedenheit vorbei, der Kampf ums Geld geht wieder los, Diane nimmt ein paar Jobs an, baggert einen Nachbarn an, hat ihn fast so weit, dass er den beiden in seiner Position als Anwalt helfen will, bevor Steve dazwischen bratzt und alles zunichtemacht. Und so geht es weiter, bis Diane keinen Ausweg mehr weiß und von einem neuen Gesetz Gebrauch macht (wir befinden uns in einem „fiktiven“ Kanada im Jahre 2015...), das Eltern die Möglichkeit gibt, ihre Kinder im Notfall an Krankenhäuser zur Adoption zu geben. Am Schluss sehen wir sie zuhause, einsam und verzweifelt, zumal Kyla sich verabschiedet, denn sie ziehen ein weiteres Mal um, und wir sehen Steve in der Anstalt, wie er die Unaufmerksamkeit seines Bewachers ausnutzt, sich als der Zwangsjacke reißt und auf ein sehr großes Fenster zu rennt.
Man kann sich diese wilde Story allzu gut in den Klauen der Hollywood-Kitschmaschinerie vorstellen, Dolan aber hat sie mit so viel Gefühl, Überschwang und Temperament erzählt, das sich mich einfach voll mitgerissen hat. Dies ist ein faszinierendes Drama über drei Menschen und ihr Ringen um Glück. Anders als beispielsweise Fassbinder polarisiert Dolan nicht in dem Sinne, dass er die Welt um sie herum als grundsätzlich feindselig, eng und restriktiv darstellt, er macht aus seinen Protagonisten keine missverstandenen, an jener Welt leidenden Märtyrer, schildert nur immer wieder Situationen, in denen Steve und Diane anstoßen, auch Grenzen überschreiten. Steve ist ein aggressives, jähzorniges Monstrum, ein völlig unkontrollierbares Pulverfass, das jederzeit explodieren kann, das sich an keine Regel hält und ständig zwischen den Extremen schwankt, zwischen ausgesuchter Höflichkeit und ungenierter Provokation, dessen Übergriffe ständig und in jeder Situation passieren können. Diane, noch immer attraktiv, forsch und flott, erregt mit ihrem etwas herausfordernd wirkenden Äußeren sowohl bei Männern als auch bei Frauen Anstoß (natürlich aus jeweils sehr verschiedenen Gründen…), aber auch mit ihrem ziemlich unverblümten Umgangston, den man je nach Veranlagung auch noch anders werten könnte. Genau wie ihr Sohn ist sie impulsiv, temperamentvoll, und zusammen bilden sie ein extrem entzündliches, fragiles System, das zwischen fast schon inzestuösen Liebesbekundungen und wüsten Kämpfen changiert, und zwar im Stunden- oder gar Minutentakt, was nicht nur für die beiden äußerst anstrengend ist. Die introvertierte, unsichere Kyla bildet manchmal einen willkommenen Puffer, bemüht sich vor allem um Steve und darum, seine frei herumflatternden Fähigkeiten ein wenig zu erden, aber letztlich ist ihre gemeinsame Zeit zu kurz und gegen die stürmischen, dominanten Persönlichkeiten der beiden hat sie ohnehin kaum eine Chance.
Unkonventionell, fanatsievoll und leidenschaftlich hat Dolan diese Dreiecksgeschichte erzählt, sehr wichtig sind der herausragende und ebenso unberechenbare Soundtrack und die Bildgestaltung, die Schönheit und Leid in einem Rahmen erfasst und sehr nah dran bleibt an den Personen. Die drei Hauptdarsteller liefern sich famose Szenen, gehen aufs Ganze, genau wie ihr Regisseur, der hier einfach alles richtig gemacht hat. Bislang bin ich Dolans schillernd-schrillem Universum mit Ausnahme seines Erstlings eher aus dem Weg gegangen – diese Haltung sollte ich dringend überdenken! (20.11.)