Still Life (Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit) von Uberto Pasolini. England/Italien, 2014. Eddie Marsan, Joanne Froggatt, Karen Drury, Neil D’Souza, Andrew Buchan, Michael Elkin
Mr. May ist jeder Zoll ein Beamter: Etwas farblos, etwas unscheinbar, etwas durchschnittlich, ein schüchterner kleiner Pedant, Bürohocker der Londoner Sozialbehörde, zuständig im weitesten Sinne für Bestattungen. Wir erleben ihn als sehr gewissenhaften, hartnäckigen Herrrn, der sich bemüht, jedem Verstorbenen ein würdiges Begräbnis zu verschaffen, vor allem ein Begräbnis jenseits der üblichen Anonymität. Zu diesem Zwecke versucht er, Angehörige und Freunde aufzutreiben, Menschen, die sich an den Verstorbenen erinnern und bereit sind, ihm die letzte Ehre zu erwiesen. Er ist ein Spurensucher, ein Jäger und Sammler, und jeden Fall, in dem es ihm gelingt, jemanden zu finden, sieht er als persönliche Niederlage, weshalb er ein dickes Fotoalbum mit Bildern all jener anlegte, die praktisch unbemerkt, einsam gingen. Eines Tages nun wird sein Stuhl im Zuge gängiger Synergie-Praktiken abgeschafft, und er bekommt einen letzten Fall, dem er sich mit besonderer Hingabe widmet. Und diesmal mit Erfolg.
Ein stiller, melancholischer Film über einen stillen, melancholischen Mann. Aus einer vermeintlichen Komödie über einen typisch britischen Sonderling wird auf leisen Sohlen eine Reflexion über die Dinge des Lebens – oder besser, des Sterbens. Denn sehr viel leben im eigentlichen Sinne spielt sich bei Mr. May nicht ab. Natürlich wohnt er anonym in einem nicht allzu unfreundlichen Wohnblock, natürlich lebt er völlig allein, natürlich lebt er nur für die Arbeit, natürlich hat er seinen Tag nach strikt festgelegten Ritualen strukturiert. Schon als Lebender ist er praktisch genauso einsam wie diejenigen, um deren Beerdigung er sich kümmern muss, und als sei ihm dies vollkommen bewusst, legt er all sein Engagement in diese Fälle, will sich niemals damit abfinden, dass es Menschen geben soll, die einfach keine Spuren hinterlassen, niemanden, der sich ihrer erinnert, niemanden, er vielleicht auch um sie trauert. Als ihm klargemacht wird, dass seine Dienste ab sofort nicht mehr benötigt werden, regt sich in ihm erster leiser Trotz, er setzt durch, dass er den bereits begonnenen Auftrag zuende bringen möchte, pisst seinem schnöseligen Boss an den Audi (yes...), und widmet sich fortan ausschließlich der Suche nach der Vergangenheit seines letzten „Kunden“. Dies wird eine Art Wettlauf mit der Zeit, den May umso verbissener verfolgt, da es ihm nicht nur um die professionelle Ehre geht, sondern auch um einen würdigen Abgang. Den verschafft er sich in doppelter Hinsicht, denn nicht nur gelingt es ihm wie durch ein Wunder, die in mühsamer Kleinarbeit recherchierten Weggefährten und Angehörigen, Ex-Kollegen, Saufkumpanen und Armeekameraden des Toten entgegen ihrer ersten Reaktion tatsächlich zum Kommen zu bewegen, er selbst leistet sich eine einzige Spontaneität, eine Abweichung von der täglichen Routine, und just die kostet ihn das Leben. Die wunderbar poetische Schlussszene zeigt dann, wie sein Grab nach und nach von den Geistern all jener belagert wird, um die er sich so selbstlos bemüht hatte.
Ich denke doch, dass sich das viele schon mal gefragt haben: Welche Spuren werde ich hinterlassen, und bei wem, und wer wird an meinem Grab stehen, und wie? Die grausamste Vorstellung überhaupt muss es doch sein, dass dort niemand mehr ist und dass es auch niemanden mehr gibt, der sich erinnert, dem man etwas bedeutet hat. Uberto Pasolini verhandelt diese schweren Gedanken nicht direkt leicht, aber doch irgendwie sanft und mit sehr viel Gefühl, ohne dabei auf die Kitschdrüse zu drücken. Sein Mr. May ist das Sinnbild des „kleinen Mannes“, der praktisch nachträglich um das Leben anderer, ironischerweise Toter, kämpft, offensichtlich in Ermangelung eines eigenen Lebens, um das er sich scheinbar überhaupt nicht kümmert. Er tritt vollkommen hinter seine Aufgabe zurück, sieht sie als eine Art Berufung, ohne aber zu Werke zu gehen wie ein Missionar, ohne jemals seine Aura des stoischen Regenmantelbeamten abzustreifen. In dem Moment, da er diese Uniform abstreift und quasi als Zivilist seinen letzten Auftrag beendet, verändert sich sein Gesichtsausdruck ganz frappierend, sieht er mit einem Mal jünger, heller, entspannter als je zuvor aus, fällt es uns viel leichter, auch den Menschen in ihm zu sehen, weil er ihn endlich auch zugänglich macht.
Eddie Marsan gelingt eine vollendete, wunderbar nuancierte, einfühlsame Darstellung, die dem Film ein sehr eindrucksvolles Zentrum gibt. Und die in ihrer genau ausbalancierten, diskreten, hintergründigen Art perfekt den Ton des ganzen Films vorgibt, sich widerspiegelt in den sehr liebevoll gezeichneten Nebenfiguren und den klaren, schönen Bildern. Sogar Rachel Portmans notorisch süßliche Musik (siehe oben…) passt sich dem dezenten Tonfall an, der seinen leisen Humor aus langen Blicken und langen Einstellungen bezieht und der alles in allem eine kongeniale Symbiose aus britischem Understatement und italienischem Stilgefühl darstellt. (17.9.)