Mr. Turner von Mike Leigh. England/Frankreich/BRD, 2014. Timothy Spall, Dorothy Atkinson, Marion Bailey, Paul Jesson, Ruth Sheen, Sandy Foster, Amy Dawson, Lesley Manville

   Vor fünfzehn Jahren schon hatte sich Mr. Leigh in „Topsy-turvy“ zwei Ikonen der britischen Kulturhistorie vorgenommen (die Herren Gilbert und Sullivan nämlich) und bewiesen, dass mir auch Filme gefallen können, die mich ursprünglich inhaltlich gar nicht mal so interessiert haben. Nun also ist William Turner dran, noch ein britisches Nationalheiligtum also, und wieder ist das Projekt allerbestens geglückt, obwohl zweieinhalb Stunden bis kurz vor Mitternacht eben doch eine harte Nummer sind für nicht mehr ganz taufrische Normalberufstätige.

   Bei Mr. Leigh weiß man ja immer gleich, dass man sicher kein braves, konventionelles Biopic zu sehen kriegen wird, in diesem Falle also eines, das Leben und Schaffen des Malers Turner gewissenhaft abarbeitet. Mike Leigh hatte wie immer seine eigenen Ideen und wie immer hat er sie konsequent und total überzeugend umgesetzt. Ein Porträt des Künstlers nicht primär als Künstler, sondern primär als Mensch. Die Werke selbst spielen interessanterweise eher eine marginale Rolle, werden hier und da mal ins Bild genommen, gelegentlich auch mal eines Kommentars gewürdigt, im Zentrum aber steht das Leben Turners, im Ausschnitt die letzten zirka zweieinhalb Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1851. Er wohnt zusammen mit seinem Vater in London, fürsorglich betreut und heimlich geliebt von der Haushälterin Hannah, einer demütig verhuschten Person, die auch Turners regelmäßigen, plumpen sexuellen Übergriffe erträgt, wenn sie nur in seiner Nähe sein kann. Einzig zum Vater scheint er eine auf gegenseitiger Liebe fußende, innige Beziehung zu erhalten, ansonsten gibt er sich mürrisch, abweisend, ruppig. Erst recht, wenn seine Ex ihm auf die Bude rückt und die gemeinsamen Töchter anschleppt, die er partout nicht anerkennen und mit denen er nichts zu tun haben will. Allgemein geht er zum Establishment auf Distanz, legt zwar Wert darauf, dass seine Bilder auf öffentlichen Ausstellungen den seiner Ansicht nach gebührenden Platz eingeräumt bekommen, ist aber insgesamt kein Freund und Meister des verkaufsfördernden Smalltalks. Den Kollegen Constable und Ruskin schaut er brummelnd über die Schulter, doch tiefergehende Kontakte oder gar fachlicher Austausch unter Künstlern sind kein Thema. Ganz für sich streunt er durch die Gegend, gern auch mal auf dem Kontinent, beispielsweise in Holland, wo er Anregungen und Impressionen aufnimmt, und eine dieser Reisen führt ihn nach Margate/Kent, wo er ein Zimmer mit Blick aufs Meer mietet. Die Vermieterin heißt Mrs. Booth, und als einige Jahre später Mr. Booth das Zeitliche segnet, knüpfen die Landlady und der Maler aus London zarte Bande, die bis zu seinem Tod halten.

   Eine wunderbare kurze Montage ganz zum Ende des Films zeigt Leighs besondere Kunst, in wenigen Bildern sehr viel zu sagen. Wie unterschiedlich reagieren die beiden wichtigsten Frauen auf Turners Tod: Die eine, ganz handfest, pragmatisch und im Leben stehend, putzt die Fenster und ihr Blick geht nach vorn, die andere, versunken in Trauer und Schmerz, bleibt allein im Turnerschen Haus in London zurück und beweint den Mann, der ihre Liebe nie erwidert, sondern nur ausgenutzt hat.

   So ist der Film im Ganzen. Eine Abfolge ruhiger, intimer Szenen, die sich nur gelegentlich mal in einen weiteren gesellschaftlichen Rahmen öffnen. Turner ist deutlich mehr privater denn öffentlicher Mensch hier, und Leighs Porträt ist sicherlich ähnlich sperrig geworden wie der Mann selbst war, ein genialer Exzentriker und Einzelgänger, in vieler Hinsicht unbegabt fürs Menschliche, selbst die ungewohnt zärtliche Zuneigung des Vaters erwidert er bestenfalls ungelenk, während er Hannah ungeniert benutzt und seine leiblichen Töchter schlicht und einfach nicht zur Kenntnis nehmen will, ebensowenig wie ihre ständig verbissen und vorwurfsvoll keifende Frau Mama. Nur in der Malerei scheint er voll aufzugehen, hier investiert er Intuition, Leidenschaft, Kreativität. Er ist wohl auf sein Prestige bedacht, denkt auch ans liebe Geld und lebt durchgehend in sehr einfachen Verhältnissen, doch als ihm eines Tages ein reicher Mäzen eine gewaltige Summe nennt, die er für sein Gesamtwerk auszugeben bereit wäre, fängt er sich eine Abfuhr ein. Vielmehr erläutert Künstler dem indignierten Geldsack, er lege Wert darauf, dass sein Werk der britischen Nation zur freien Verfügung steht und nicht in die Hände eines einzelnen Sammlers gerät. Dieser etwas überraschenden Eröffnung steht die Tatsache gegenüber, dass sich seine Kunst radikal vom Mainstream fortentwickelt und zuletzt eher impressionistische Züge annimmt, lange bevor der Begriff überhaupt relevant wird.

 

   Mike Leigh und sein langjähriger Kameramann Dick Pope widerstehen natürlich der Versuchung nicht, Turnes besondere Ästhetik in ihren Bildern nachzuempfinden, und so ergeben sich traumhafte Tableaus und eine allgemein brillant komponierte Bildersprache, die aber nicht zum Selbstzweck ausgestellt wird, sondern Rückhalt und Widerhall findet in Leighs behutsamer, bedächtiger Erzählung, die den Menschen in ihrer alltäglichen Umgebung nahe bleibt und sich um die Erfordernisse des gewöhnlichen Ausstattungskinos nicht kümmert. Der spitzzüngige Satiriker Leigh kommt ebenso zum Vorschein wie der der Sozialrealist, es finden sich schön pointierte Dialogsequenzen neben präzisen Milieubeschreibungen. Und obgleich der Film durchgehend sehr ruhig ist, wirkt er keineswegs steif oder gestelzt wie so viele britische Historienwerke, sondern im Gegenteil vital und unterhaltsam. Leighs brillantes Drehbuch ist ein wichtiger Faktor dabei, der andere liegt natürlich in Timothy Spalls kongeniaer Interpretation, die trotz des vollen Körpereinsatzes niemals angestrengt oder aufdringlich erscheint und auch nicht hart trainiert wie bei vielen Akteuren, die nur auf den Academy Award schielen. Spall ist Teil des Ensembles (das gespickt ist mit vielen wunderbaren Stammschauspielerinnen aus Leighs Universum), ist Teil des Konzepts und hat es überhaupt nicht nötig, sich irgendwie ins Rampenlicht zu drängen, denn seine Präsenz ist souverän und eindrucksvoll genug. Gleiches gilt für den Film insgesamt, und obgleich mein ewiger Mitstreiter und ich diesmal wieder eher uneinig blieben, ruhen meine persönlichen Hoffnungen doch darauf, dass der Mike als verlässliche britische Konstante bleiben wird, jetzt wo der Kenny offenbar nicht mehr zur Verfügung steht. (18.11.)