Locke (No turning back) von Steven Knight. England, 2013. Tom Hardy
Ein Mann im Auto, ein Mann am Telefon. Mehr ist nicht. Ein Mann namens Ivan Locke verlässt seine Baustelle, seinen Arbeitsplatz, am Vorabend des größten und wichtigsten Bauvorhabens, an dem er je beteiligt sein wird, setzt sich ins Auto und fährt Richtung London, und erst im Laufe der Zeit verstehen wir, wieso er das tut. Am Telefon versucht er, die Fäden in der Hand zu behalten, die Dinge, sein Leben zu regeln, zu tun, was er glaubt tun zu müssen, und dennoch nicht alles zu verlieren. Eine Frau bekommt ein Kind von ihm, wird in Kürze in London gebären, und er ist nun auf dem Weg zu ihr, um ihr beizustehen. Diese Frau ist nicht seine Ehefrau, die ist zuhause mit den beiden Jungs und wartet auf ihn, um ein Fußballmatch anzuschauen. Diese Frau war ein One-Night-Stand, der nichts bedeutete, doch Ivan will sich nun der Verantwortung nicht entziehen, obwohl er sie nicht liebt und nicht mit ihr zusammen leben wird. Vier Schauplätze muss Ivan am Telefon während der anderthalb Stunden langen Fahrt Richtung London jonglieren: Die kurz vor der Entbindung stehende, auf ihn wartende Frau in London, seine fassungslose Ehefrau daheim samt den Jungs, die allmählich kapieren, dass etwas schwer in Unordnung geraten ist, und den Arbeitsplatz, den er trotz seines Aufbruchs vernünftig abwickeln will. Er instruiert einen Kollegen, der total überfordert ist, er setzt sich mit dem entgeisterten Chef auseinander, der wiederum den Bossen in Chicago Rechenschaft schuldet, er tut alles, um das Betongießen am folgenden Tag reibungslos ablaufen zu lassen. Ach ja, und dann gibt’s da noch den imaginären Vater auf dem Rücksitz, mit dem Ivan sich auch noch unterhält. Am Schluss hat er ganz sicher seinen Job verloren, er hat sehr wahrscheinlich auch seine Ehefrau verloren, aber er hört am Telefon sein gerade zur Welt gekommenes Baby.
Ein Mann, ein Auto, ein Telefon und der faszinierende Beweis, dass man aus dieser maximal reduzierten Situation einen maximal spannenden, mitreißenden Film machen kann. Was sehen wir: Sehen wir einen Burschen, der in nur neunzig Minuten sein komplettes Leben vor die Wand fährt? Oder sehen wir das seltene Beispiel eines Mannes, der sich seiner Verantwortung stellen will, egal was es ihn kosten wird? Oder sehen wir einen Mann, der sich vom Trauma der eigenen Kindheit, des abwesenden, feige verschwundenen Vaters lösen und ihm und sich beweisen will, dass es auch anders geht, dass man sich stellen kann, dass man den Mut haben kann. Höchstwahrscheinlich sehen wir irgendwie alle drei, und auch deswegen gerät Ivan zwischendurch so sehr in Not, weil er versucht, unter einen Hut zu kriegen, was wohl nicht unter einen Hut passt. Sein Chef wird eben kein Verständnis für ihn haben, seine Ehefrau wohl auch nicht, und an die Frau in London ist seine Heldentat irgendwie vergeudet, denn er will gar nichts von ihr und das versucht er ihr am Telefon auch begreiflich zu machen. Die allermeisten Männer hätten also drauf gepfiffen, die Dame ihr Kind allein zu Welt bringen lassen und darauf gehofft, dass der einmalige Seitensprung für immer unentdeckt bleibt. Bei Ivan fragt man(n) sich zwischendurch tatsächlich, ob der Preis für seine Aktion nicht am Ende zu hoch ist, dann wieder bewundert man(n) ihn für seinen Mumm, für die Folgen der einen Nacht im Hotel gerade zu stehen. Wie viele würden das schon tun?
Wir sehen nur Tom Hardy, wie er um sein Leben spielt, wir sehen die abendlichen und nächtlichen Autobahnen Richtung London, und das reicht völlig, um uns für neunzig Minuten hineinzuziehen in den Malstrom, dem Ivan sich selbst ausgesetzt hat. Der enorme Spannungspegel wird allein durch seine Intensität hoch gehalten, durch die Eindringlichkeit, mit der er versucht, sich seiner Ehefrau zu erklären, die Frau in London zu beruhigen, sich den tobenden Chef vom Hals zu halten und seinem Kollegen detaillierte und hilfreiche Anweisungen für morgen zu geben. Hardy kommt ohne großes Drama aus und wirkt dadurch noch glaubhafter und stärker, eine wirklich eindrucksvolle Performance, die durch Regie und Drehbuch perfekt unterstützt wird. In der Reduktion entsteht ein ganz neuer Reichtum, eine Vielzahl von Themen und Emotionen. Und neben allem anderen kommt am Schluss als Quintessenz ein Wahlspruch raus, den ich in seiner tieferen Bedeutung in vollem Umfang unterstütze: Scheiß auf Chicago!!! (7.7.)