Philomena von Stephen Frears. England, 2013. Judi Dench, Steve Coogan, Sophie Kennedy Clark, Anna Maxwell Martin, Michelle Fairley, Cathy Belton, Barbara Jefford, Kate Fleetwood, Mare Winningham, Peter Hermann
Irland im Mittelalter, sprich in den frühen 50ern: Die junge Philomena wird nach einem Kirmesbesuch schwanger und landet wie viele ihrer Art in einem von Nonnen geführten „Mutter-und-Kind-Heim“ in einer alten Abtei in Roscrea, Co. Tipperary. Dort werden die jungen Mädchen für ihre „Fleischeslust“ gebührend bestraft, gebären unter Schmerzen, schuften wie die Sklaven, werden eingesperrt wie im Knast, erniedrigt und misshandelt. An schlimmsten jedoch: Ihre Kinder werden vielfach an wohlhabende, adoptionswillige Amerikaner verhökert, und die Nonnen tun später alles, um zu verhindern, dass die Mütter und ihre Kinder jemals wieder zusammenfinden können. Als Philomenas Anthony 50 wird, erzählt sie ihrer Tochter erstmals davon, und diese wiederum trifft zufällig auf den just entlassenen BBC-Reporter Martin Sixsmith. Der ist ein wenig zynisch und misanthropisch drauf, würde gern ein Buch über russische Geschichte schreiben und hat folglich null Interesse an einer „human interest story“. Irgendwas an Philomena bewegt ihn aber doch, und als obendrein ein lukrativer Vertrag für eine schön saftig rührende Story winkt, erklärt er sich bereit, der alten Dame bei der Spurensuche behilflich zu sein. Die führt zunächst nach Roscrea, dann aber bald über den Teich nach Washington, wohin Anthony tatsächlich als kleiner Junge verkauft wurde. Die beiden finden seine Spur, müssen aber erfahren, dass er bereits vor Jahren an Aids verstorben ist. Und sie müssen vor allem erfahren, dass sie von den frommen Schwestern nach Strich und Faden belogen worden sind.
Vor einigen Jahren schon hat Peter Mullan seinen fabelhaften, zornigen und kraftvollen Film über die Magdalene Sisters gedreht und uns sprachlos gemacht bei der Vorstellung, dass das Mittelalter in Westeuropa erst so kurz vorüber ist – die Heime für „gefallene Mädchen“ existierten über zweihundert Jahre bis in die 1970er, und wahrscheinlich gibt’s dort drüben auf der Insel etliche brave Katholiken, die sie noch immer für eine gute Idee halten. Auch Frears und Steve Coogan als Autor und Produzent haben sich an eine wahre Geschichte gehalten (Martin Sixsmith hat 2009 ein Buch über das verlorene Kind der Philomena Lee veröffentlicht), haben diese Geschichte aber von rückwärts aufgerollt und daraus ein eher stilles, aber nicht minder wirkungsvolles Drama gemacht. Zum einen herrschen Wut und Verbitterung über eine hoffnungslos rückständige, repressive, zutiefst verlogene und grausame Gesellschaft, die Sexualität kategorisch tabuisiert, die Frauen keinerlei Rechte und Freiheiten zugesteht (gemäß der religiös tradierten Rollenverteilung), die autoritär und rücksichtslos straft und die obendrein auch noch Geschäfte macht mit den unglücklichen Schicksalen der „gefallenen Mädchen“, nämlich einerseits mit ihrer Arbeitskraft und andererseits mit ihren Kindern. Das ist ein wenig so, als ob Jonathan Swifts schlimmste Visionen doch noch wahr geworden wären, als ob die Realität die Satire einmal mehr eingeholt und sogar übertrumpft hätte. Frears und Coogan gelingt es, dem berechtigten Zorn über soviel Unmenschlichkeit und Bigotterie gehörig Raum zu geben und dennoch auf effektheischendes Spektakel zu verzichten. Wie gesagt, dies ist ein stilles Drama, ein persönliches, das sich ganz in der Person Philomenas abspielt, einer alten, gläubigen Irin, die im Grunde vielleicht selbst noch immer glaubt, sie sei schuld an dem, was ihr angetan wurde. Eine „einfache“, impulsive Dame mit einer Vorliebe für Schnulzen in Wort und Bild, eine Dame, die auf Höflichkeit besteht und schon deshalb mit dem oft reichlich blasierten und unausstehlichen Mr. Sixsmith aneinander gerät. Immerhin kann er sie ganz am Schluss, als er selbst schon darauf verzichten will, den fälligen Artikel zu publizieren, davon überzeugen, dass die Welt doch erfahren sollte, was hier passiert ist, kann sie also gleichzeitig erfolgreich ermutigen, ihre angestammte Opferhaltung aufzugeben, sich gegen erlittenes Unrecht nach fünfzig Jahren endlich zur Wehr zu setzen, aufzubegehren gegen jene Autorität, unter der sie sich so lang hatte beugen müssen. Sixsmith wiederum lernt, seinen berufsbedingten Zynismus zu revidieren, sich ruhig auch mal zu trauen, Gefühl und Menschlichkeit zuzulassen, und nicht gleich verächtlich zu schnaufen, wenn einer T.S. Eliot nicht kennt und vielleicht eine etwas vereinfachte Vorstellung von Schwulen hat.
Neben dem historischen Drama entwickelt sich hier eine ganz fabelhaft gefühlvolle und witzige Beziehungskiste – keine Liebesgeschichte! – zwischen zwei Antipoden, die das natürlich auch bleiben, die sich dennoch in einigem näher kommen, voneinander lernen, füreinander einstehen und gemeinsam auch einiges durchmachen. Judi Dench und Steve Coogan machen ihre Szenen zum reinen Genuss, zwei geniale Komödianten und Darsteller, die perfekt zwischen den Tonlagen changieren und dafür sorgen, das sich keine übermäßige Sentimentalität einstellt, auch wenn’s zwischendrin mal richtig traurig und bewegend wird. Der Film bleibt immer auf der richtigen Seite, von Frears gewohnt sicher und mit viel Gefühl für die Figuren und ihre Begegnungen inszeniert, und wie bei Peter Mullan bleibt auch hier maßlose Entgeisterung über Menschenverachtung und Machtmissbrauch im Zeichen der Kirche und des Glaubens. Da ließe sich noch so manch schmutzige Geschichte erzählen, und zwar nicht nur aus Irland... (9.3.)