Titos Brille von Regina Schilling. BRD, 2014. Adriana Altaras
So eine Biographie, die erfindet man nicht, die hat man einfach, und das auch nur, wenn man mitten aus Mitteleuropa stammt, diesem faszinierend grauenvollen, schrecklich schönen Schmelztopf aus Kultur-, Religions-, Diktatur- und Nationalismuswahn. Zuviel davon auf zu engem Raum, und ständig fliegt der Deckel hoch. Adriana Altaras weiß ein Lied davon zu singen: Geboren in Zagreb als Kind jüdischer Eltern, in jungen Jahren in die BRD gekommen, zunächst Gießen, dann Berlin, sie selbst Schauspielerin, bekannt vor allem durch Filme von Rudolf Thome. „Titos Brille“ aber beschäftigt sich in erster Linie mit ihren Dibbuks, ihren Hausgeistern, den Eltern, der Geschichte, all dem, was sie als sogenanntes Erbe für immer mit sich schleppt, und in ihrem Fall ist dies eine schier übermächtige Fracht. Der Vater: Mystischer Partisanenheld, Titoanhänger und angeblicher Lebensretter, später dann im absurden Schauprozess von den eigenen Leuten verstoßen, geflohen nach Gießen, dort sofort erfolgreich an der Uniklinik als innovativer Diagnostiker, gleichsam als Wiederaufbauer der jüdischen Gemeinde, gemeinsam mit seiner Frau, einer brillanten Architektin und glühenden Kommunistin, die sich nur schwer und eigentlich nie so richtig in der neuen Welt einrichtet, dennoch kreativ und produktiv bleibt und vom Bruder Johannes höchstselbst das Bundesverdienstkreuz empfängt. Aber für Adriana gibt es vor allem eine andere Seite: Der Vater ist ein ruheloser Womanizer, der es vornehmlich auf öde Blondinen abgesehen zu haben schien, und allgemein für die Tochter weitgehend fern. Die Mutter hat sie nach ihrer Erinnerung niemals in den Arm genommen, etwas in ihrer Geschichte wiederum hat diesen Teil verschüttet – der Krieg, die Flucht vor den kroatischen Faschisten, die Internierung im KZ auf der Insel Rab gemeinsam mit Mutter und Schwester. Adriana hat aber gelernt, dass man sich mit seinen Geistern auseinandersetzen, ihnen nachspüren muss, um sie endgültig bändigen zu können, und also macht sie sich auf den Weg zurück, auf diese Reise entlang all der Stationen in die eigene Vergangenheit: Gießen, Slowenien, Gardasee, Split, Zagreb, Rab. Am Ende dann zurück in Berlin die Bar Mitzwa ihres Jüngsten, der Weg zurück ins Hier und Jetzt.
Unglaublich schon, was kurze neunzig Minuten transportieren können, ohne unter dem Gewicht der Themen in die Knie zu gehen. Was hier an jüngerer europäischer Geschichte sowohl im engeren, familiären als auch weiteren Kreis verhandelt wird, verdient größten Respekt, und das auch noch im Rahmen eines ebenso persönlichen wie mutigen und unterhaltsamen Dokumentarfilms, wobei dieses Label hier nicht allzu eng gesehen werden sollte. Wichtig ist vor allem, dass Adriana Altaras ihre eigene Persönlichkeit voll einbringt, ihre Quirligkeit, den frechen Humor, die Neugier, die Vitalität, aber auch die Trauer über das, was gefehlt, über die Eltern, die sie vielleicht nie gehabt hat, jedenfalls nicht so, wie sie sie gebraucht hätte. Gleichzeitig das unbedingte Bekenntnis zu den eigenen Wurzeln, zum Judentum mit allem, was das mit sich bringt, zur Familie mit allem, was die mit sich bringt. Sie spürt der Vergangenheit der Mutter und des Vaters nach, trifft ihre geliebte Tante am Gardasee, die ältere Schwester ihrer Mutter, die ihr vermutlich viel mehr Mutter war, sie beschäftigt einen Anwalt, um in Zagreb das Besitzrecht am Geburtshaus ihrer Mutter wieder zu erlangen, wohl wissend, dass unendlich lange und zähe Auseinandersetzungen mit der Bürokratie anstehen, und sie reist nach Rab zu den Resten jenes KZs, in dem ihre Mutter als junge Frau vielleicht für immer verlernte, zu lieben. Altaras kommentiert, schaut sich selbst zu, begleitet ihre Reise abwechselnd liebevoll (selbst-)ironisch, nachdenklich und auch betroffen, lernt ständig neues über ihre Familie und damit sich, versteht manches vielleicht besser, erkennt aber auch, dass es einiges geben wird, was sie nie versteht, dass ihre Eltern ihr zu einem gewissen Teil immer fremd und unbekannt bleiben werden.
In dieser Form ist das keine eitle Selbstentblößung und auch keine pathetische Tiefenbohrung, sondern eine durch und durch lebendige Spurensuche und Geisterbeschwörung in einem, ganz nebenbei ein Querschnitt durch mehrere Jahrzehnte Mitteleuropa, eine Hommage an sehr viele persönliche Orte und Menschen und die energische Aufmunterung, der Vergangenheit nicht bloß nachzutrauern oder Verlorenes bzw. Versäumtes zu beweinen, sondern wenn möglich Konsequenzen zu ziehen, zu tun, was noch zu tun ist, und sich ansonsten im ständigen Wissen um das Vergangene dennoch dem Zukünftigen zuzuwenden. Tolles, einerseits radikal individuelles, andererseits auch universelles Kino, das man in so geglückter Form nicht gerade häufig sehen kann. Da liebäugele ich direkt noch mit der Anschaffung des Buches… (17.12.)