Westen von Christian Schwochow. BRD, 2013. Jördis Triebel, Tristan Göbel, Alexander Scheer, Jacky Ido, Anja Antonowicz, Ryszard Ronczewski, Carlo Ljubek

   Ende der 70er, drei Jahre nachdem ihr russischer Lebensgefährte und Vater ihres Sohnes verschwand und für tot erklärt wurde, schafft Nelly aus Ostberlin endlich den Weg über die Grenze in den Westen. Sie landet wie viele andere mit ihrem Sohn Alexej im Auffanglager Marienfelde, und wie viele andere muss sie die langwierige und erniedrigende Prozedur auf dem Weg zur Anerkennung als westdeutsche Bürgerin über sich ergehen lassen. Sie lernt Hans kennen, der schon seit zwei Jahren im Lager lebt und es irgendwie nicht schafft, rauszukommen. Sie lernt eine polnische Familie kennen, die scheinbar schon Fuß gefasst hat, dann aber doch zurück nach Hause muss. Sie lernt einen US-amerikanischen Beamten kennen, der sie lange verhört, sie immer wieder nach ihrem angeblich toten Freund fragt und ihr schließlich die Möglichkeit suggeriert, er könnte noch am Leben sein und als Stasiagent missbraucht worden sein. Die Verhöre erinnern sie schmerzhaft an ihre Zeit in der DDR und an das, wovon sie endlich loszukommen versucht hat. Ihre Wut und ihr Misstrauen führen zu einigen schlimmen Momenten,  unter denen vor allem Alexej und Hans zu leiden haben. Schließlich aber kann sie ihr Trauma offenbar abschütteln, bezieht mit ihrem Sohn eine Wohnung in der Stadt, findet einen Job und kann vielleicht sogar im goldenen Westen Fuß fassen.

   Tja, der goldene Westen, das ist hier nicht mehr als eine verregnete, flüchtige Vision von gut gefüllten Schaufenstern am Ku’damm, das ist vor allem ein Lager, das auch so aussieht wie ein Lager, in dem sehr viele Menschen sehr viel mehr Zeit verbringen als sie müssten, denn die bundesdeutsche Bürokratie (genau: unsere Bürokratie) zeigt hier ihr hässlichstes Gesicht, unterzieht die Flüchtlinge einer schikanösen und demütigenden „Aufnahmeprüfung“, die sich symptomatisch in nichts von den Stasimethoden unterscheidet, vor denen jene Menschen eben geflohen sind. Schwochow stellt dies sehr plakativ und symmetrisch gegenüber, aber das ist in diesem Fall auch erlaubt, denn der Mangel an Sensibilität, Respekt und Wertschätzung, den die Lagerbewohner am eigenen Leib erfahren, ist schlicht skandalös und sagt auch etwas über die deutsch-deutschen Beziehungen jener Zeit, wie auch Nellys Erfahrungen bei dem Versuch, einen Job zu finden, der ihrer Qualifikation und ihren Ambitionen angemessen ist. Hier aber, wie auch an anderer Stelle, wurden die Neuankömmlinge konsequent zu Bittstellern ohne Rechte reduziert. Das 12-Stempel-Verfahren ist wirklich so durch und durch deutsch, dass es einen schon friert beim Zusehen, doch wird diese kulturell tief verwurzelte Neigung zu tyrannischer Pedanterie diesmal tatkräftig unterstützt von den alliierten Besatzungsmächten, die in Berlin offenbar vorsätzlich eine Atmosphäre offener Paranoia erzeugen und konservieren, und diese Paranoia ist dermaßen allgegenwärtig und dominant, dass es fast unmöglich ist, nicht von ihr angesteckt zu werden.

   Drehbuch und Regie ist es großartig gelungen, die beiden Ebenen, also die private und die gesellschaftliche, politische, sichtbar werden zu lassen, ohne dass die eine die andere verdrängt oder überlagert. Dies ist jederzeit das Drama einiger individueller Personen und es ist auch das Drama sehr vieler Menschen, nicht nur 1979. Was Nelly erlebt und erdulden muss, erlebten viele vor und nach ihr, Hans‘ Geschichte, die bis zuletzt offen bleibt, weil keine objektive Instanz zur Hand ist, wurde von vielen vor und nach ihm so erlebt. Sowohl die DDR-Geheimdienste als auch die des Westens fördern bewusst das Misstrauen der Bürger untereinander, und so weiß Nelly am Schluss noch immer nicht so recht, ob sie Hans‘ Erzählungen aus Bautzen und dergleichen glauben soll, denn solche Biographien wurden x-mal von der Stasi gefälscht. Nelly muss aber auch einsehen, wie gefährlich ihre Verunsicherung, ihr Verdacht sind, denn unten im Wäschekeller wird Hans brutal zusammengeschlagen von Mitinsassen, die eigentlich nur ein Ventil für jahrzehntelang aufgestaute Frustration brauchen, und die Beziehung zu ihrem Sohn wird mehrmals auf eine sehr harte Probe gestellt.

 

   Gestalterisch ist der Film absolut erstklassig, wenn auch nicht gerade reibungslos zu konsumieren. Eine intensive, bisweilen auch sehr nervöse Handkamera hält uns beständig dicht dran am Geschehen und den Figuren, die Bilder sind schroff und körnig, zeigen kein Interesse an glatter Kinoästhetik, die Erzählung insgesamt bleibt subjektiv, elliptisch, zum Ende hin offen, und als Zuschauer ist man halt mal gefordert. Dafür gibt’s brillante Milieustudien, starke Darsteller, vor allem aber eine Jördis Triebel in der Hauptrolle, deren Präsenz wirklich beeindruckt und die sehr nachdrücklich unter Beweis stellt, dass sie zu den allerbesten deutschen Schauspielerinnen zählt. Ein insgesamt unerhört ausdrucksstarker, intensiver Film, der mich stark bewegt hat und mit Sicherheit zu den besten deutschen dieses Jahrgangs gehören wird. (8.4.)