Deux jours, une nuit (Zwei Tage, eine Nacht) von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Belgien/Frankreich, 2014. Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Pili Groyne, Simon Caudry, Catherine Salée, Batiste Sornin

   Zwei Tage, eine Nacht. Das ist die Zeit von Samstagmorgen bis Sonntagabend, die Zeit, die Sandra hat, um die Kollegen aus dem Betrieb davon zu überzeugen, auf der anstehenden Abstimmung am Montag dafür zu stimmen, das sie ihren Job behalten kann. So einfach wird es nicht werden, denn der Chef hat sich was Feines ausgedacht, stellt die Mitarbeiter vor die Wahl: Sandra bleibt, oder jeder der übrigen sechzehn erhält eine einmalige Prämie von eintausend Euro, wenn der Arbeitsplatz eingespart werden kann. Und da die Leute in dem belgischen Industriestädtchen garantiert nicht auf Rosen gebettet sind, kann jeder einzelne das Geld gut gebrauchen bzw. hat bereits damit geplant. Hinzu kommt der Vorarbeiter, der auf die Kollegen ordentlich Druck ausgeübt hat, der Sandra loswerden will, denn die hat aufgrund einer Depression lange gefehlt und befindet sich nun wieder auf dem Weg zur „Normalität“. Sandra ist anfangs alles andere als überzeugt, ist sich ihrer anhaltenden Labilität allzu bewusst, doch ihr Mann und eine Kollegin drängen sie, die Tour von Tür zu Tür zu machen, um ihre Chance zu kämpfen. Die Reaktionen sind erwartungsgemäß völlig unterschiedlich, die einen lassen sich von ihr überzeugen, andere lehnen bedauernd ab, wieder andere reagieren abwehren bis gewaltsam, wieder andere vermeiden den Kontakt völlig, lassen sich an der Tür verleugnen. Wieder und wieder kriegt Sandra ähnliches zu hören: Ich bin im Prinzip auf deiner Seite, würde dir gern helfen, kann aber nicht, weil ich das Geld brauche, weil wir es schon verplant haben, weil wir selbst kaum über die Runden kommen und so weiter. Man schämt sich, man entschuldigt sich, man muss aber dennoch ablehnen, weil die eigene Existenz halt wichtiger ist. Sandra selbst könnte dem nicht mal widersprechen, wäre umgekehrt in der gleichen Zwickmühle. Sie kämpft gegen einen ständig drohenden Rückfall, Mutlosigkeit, Frust, Verzweiflung, doch unermüdlich angeschoben vom Mann und der Kollegin bringt sie die Tour zu Ende. Am Montag erreicht sie ein acht zu acht, der Chef bedauert, dies sei ja keine Mehrheit, freut sich aber dennoch, ihr ein Angebot machen zu können: In Kürze wird er einen anderen Vertrag nicht verlängern, und auf die Stelle könnte sie dann springen. Sie bedauert, lehnt ab, denn sie wird nicht auf Kosten eines Kollegen ihren Job halten, dann kehrt sie ihrem Chef den Rücken zu und geht erhobenen Hauptes hinaus auf die Straße. Man möchte ihr applaudieren.

   Worum es geht? Um alles natürlich, das Leben, die Existenz, die Zukunft, die Sicherheit der Familie. Aber auch um Werte wie Integrität, Stolz, Solidarität. Werte, die die Wirtschaft am liebsten per Tarifvertrag abschaffen würde, weil sie den Betrieb stören und womöglich starke, selbstbewusste Mitarbeiter machen, und das geht nicht, klar. Die Dardennes haben daraus ein Lehrstück gemacht, und zwar auf ihre bewährte Weise: Unspektakulär, schlicht, mit vermeintlich einfachen filmischen Mitteln, total und bewusst auf jeglichen Hokuspokus verzichtend und dafür voll und ganz den Menschen und seine Situation in den Mittelpunkt rückend. So radikal macht das höchstens noch Ken Loach, der im Vergleich zu den asketischen Brüdern aber deutlich mehr auf offene Emotionalität setzt, während die Dardennes es in ihren besten Filmen fertig bringen, gerade durch die Vermeidung der gängigen Mechanismen besonders intensive Gefühl auszulösen. Mir geht das jedenfalls so. Dieses ist ein Meisterwerk, ein Film, der mich wirklich beeindruckt und bewegt hat.

   Wie bei Loach ist der Gegner der wenigen Aufrechten übermächtig, ein System, gegen das der einzelne sowieso keine Chance hat, dem man allerhöchstens mit absolut todesverachtendem Mut entgegen treten kann. Einer der Repräsentanten dieses Systems hat hier einen besonders widerwärtigen Trick gefunden, die gesamte Belegschaft gegeneinander auszuspielen, zu spalten und damit in den Griff zu bekommen. Er wirft ihnen den Knochen hin, lehnt sich zurück und schaut zu, wie die Meute sich drum balgt. Eure Kollegin oder euer Geld – eure Entscheidung, eure Verantwortung. Solche Schweine sitzen einfach in solchen Positionen, so ist es überall, die Wut darüber ist ebenso universell wie die Ohnmacht, denn wirklich verändern kann man das System kaum. Auch Sandra tut das natürlich nicht, sie steht am Ende nüchtern betrachtet ohne Job und mit einer mehr als ungewissen Zukunft da. Aber sie hat ein kleines Zeichen gesetzt, hat ihren Stolz gewahrt, hat sich nicht kaufen lassen von dem nächsten miesen Trick des Chefs, hat ihre Konsequenzen gezogen aus den zwei Tagen zuvor, an denen sie zwar auch Ablehnung und Anfeindung erlebt hat, aber eben auch Zuspruch, Solidarität, auch von Leuten, die das Geld eigentlich gut gebrauchen könnten. So gesehen ist das Ende zumindest ein klein wenig optimistisch, denn Sandra hat Stärke bewiesen in einer Situation, die sie ebenso gut total niederdrücken könnte – und genau das hat ihr Chef ja auch ausnutzen wollen. Sie hat Stärke bewiesen, hat das selbst gespürt und ihrem Mann danach am Telefon versichert, sie werde noch heute auf Jobsuche gehen, und die Chancen stehen gut, dass sie das tatsächlich tun wird.

   Ein Film mit Allerweltsmenschen in einem Allerweltsmilieu, irgendeine beliebige und austauschbare urbane Szenerie, keine ausgesuchten pittoresken Schauplätze, keine künstlich erzeugte Tristesse, sondern Orte, die man in jeder Stadt überall sofort erkennt. Geschichten aus dem Alltag, wie immer für mich die wertvollsten Wie in ihrem letzten Film haben die Dardennes auch diesmal eine prominente Darstellerin  an die Spitze der Crew gesetzt, und wieder funktioniert das perfekt, weil Marion Cotillard hier nicht als Star agiert, sondern als Mensch, und weil sie vor allem ganz einfach großartig ist und in sich jeder Hinsicht nahtlos in das Konzept beiden Filmemacher einfügt.

 

   Jetzt, wo sich der Kennie zurückzuziehen droht, muss unsereiner nach anderen Ausschau halten, die die kleine Laterne der Hoffnung im allgemeinen Hollywood- und Wohlfühleinerlei hochhalten. Obwohl die Dardennes ganz bestimmt keine großen Gesten mögen, können sie meinetwegen gern dazu gehören. Mit diesem Film jedenfalls haben sie ganz ohne Frage eines der Highlights des Jahres geschaffen. (5.11.)