1001 Gram (1001 Gramm) von Bent Hamer. Norwegen/Frankreich/BRD, 2014. Ane Dahl Torp, Laurent Stocker, Stein Winge, Hildegun Riise, Per Christian Ellefsen

   Zunächst mal ist es schon verdammt großartig, dass es einen Film wie diesen überhaupt gibt (ganz zu schweigen von dem Glück, dass ich ihn sogar in unserer kleinen Stadt sehen darf). Wo es eigentlich fast nur noch um den Rausch der Effekte, der immer stärkeren Reize und der immer wirkungsvolleren Überwältigungsmechanismen geht, wirkt ein Kleinod wie dieses komplett aus der Zeit gefallen, oder anders ausgedrückt, zeitlos. Vieles von dem, was skandinavisches Kino in den letzten zwanzig Jahren ausgezeichnet hat, findet sich hier wieder: Die kontemplative Ruhe, das friedvolle Atmen der Bilder, die stille Anteilnahme am Schicksal der Personen, der Hang zu skurrilem, hintergründigem Humor, die zärtliche Zuneigung zu unangepassten, oft einsamen Außenseitern. Die dunkle, aufwühlende Vitalität, die schmerzlichen seelischen Exkursionen, das mitunter die Grenzen des Pathos‘ streifende, nichtsdestotrotz ungeheuer mitreißende Drama eines Ingmar Bergman scheinen lange schon passé, wer weiß, vielleicht traut sich irgendwann ja mal wieder jemand aus dem Norden. Bis dahin aber werden Filme wie „1001 Gramm“ das Gros der nordischen Kunst ausmachen, wenn es nicht gerade ein Krimi sein soll, klar. Bent Hamer selbst ist ein ausgesprochener Spezialist für die schrägen, bedächtigen Töne, das hat er in seinen bisherigen Werken stets von neuem unter Beweis gestellt, und wenn man nun von einer „Liebeskomödie“ liest, muss man sich die Anführungszeichen absolut hinzudenken, denn eine Liebeskomödie von Bent Hamer wird kaum die Erwartungen der weinsüffelnden, knisternden und quatschenden Wohlfühlfraktion erfüllen. Das ist dann schon die zweite großartige Sache daran.

   Die dritte und natürlich wichtigste ist der Film selbst, für mich der bislang mit Abstand schönste Film von Bent Hamer, ein Film, auf den das Attribut „bezaubernd“ ausnahmsweise mal einschränkungslos zutrifft. Eine Liebesgeschichte, und wie alle guten Liebesgeschichten eine ganz einfache Geschichte, bei der allein der Weg das Ziel ist, und es ganz und gar nicht darum geht, am Schluss den großen Trumpf aus dem Hut zu ziehen. Hamer täte das sowieso nicht, große Gesten sind nicht sein Fall, er schaut im Gegenteil aufs Detail, auf das Nichtgesagte, und manch einer braucht dann schon eine halbe Stunde, um damit warm zu werden, meinen beiden Mitstreiterinnen jedenfalls ging es so. Mir nicht, ich war von Anfang an voll drin, konnte mich ganz dem gemächlichen Tempo überlassen, der nordischen Kühle, Leere und auch Einsamkeit, die dann mehr und mehr durchsetzt und abgelöst wird von anderen Farben und Gefühlen.

   Wir lernen Marie kennen, die wie ihr Vater Ernst fürs norwegische Eichamt arbeitet, das heißt, alle möglichen Geräte vermisst, kontrolliert, abnimmt. Ein Job für Leute, die es gern ganz genau nehmen, denen Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Messbarkeit über alles gehen und denen es auch wichtig ist, am Ende ihrer Prüfung das blaue Siegel für das Jahr 2013 auf das jeweils geprüfte Gerät zu kleben, denn so hinterlassen sie wenigstens Spuren. Damit ist es bei Marie ansonsten nicht so weit her – zurückhaltend und schüchtern wie sie ist, hat sie höchstens ein paar nette Kollegen, geht auf deren Annäherungsversuche aber nicht ein, unter anderem wohl, weil sie gerade eine ziemlich langwierige und entnervende Trennung am Laufen hat und abends zumeist in dem großen schicken Haus hockt, das Tag für Tag und Stück für Stück vom Ex leergeräumt wird. Als Ernst einen schweren Herzinfarkt erleidet, bricht auch noch der letzte Fixpunkt weg – nicht nur stirbt Ernst kurz darauf, sie muss auch in seiner Vertretung nach Paris reisen, um dort wie jedes Jahr das norwegische Referenzkilo neu kalibrieren zu lassen, eine überaus feierliche und offiziöse Veranstaltung, an der viele Kollegen aus aller Herren Länder teilnehmen. Das ist für Marie nicht weiter interessant. Dass sie dabei den netten Pi kennenlernt, aber schon…

   Natürlich weiß man, dass die sich kriegen, aber darum geht’s ja auch nicht, es geht darum, wie sie zueinander kommen, das heißt vor allem, wie Marie es fertig kriegt, ihre äußerst introvertierte und defensive Haltung anderen Menschen gegenüber wenigstens dieses eine Mal aufzugeben. Und das wird einfach wunderbar umgesetzt, von Ane Dahl Torp und Laurent Stocker mit bestechender Chemie ganz wunderbar gespielt und von Hamer ebenso feinfühlig und schön in Szene gesetzt. Zunächst fokussiert er auf Maries tägliche Routine zwischen Büro, Rauchen zwischendurch mit Kollegen, Außeneinsätzen an Tankstellen, Skifluganlagen und dergleichen, den tristen Abenden daheim und den Besuchen beim Papa, der zunehmend abrutscht, weil er offenbar dem Alkohol wieder stärker zuspricht. Das macht Hamer sehr gründlich und er gibt uns damit ein gutes Gefühl für Monotonie und auch Melancholie, denn Marie erweckt nicht gerade den Eindruck, als könne sie ihr momentanes Leben in irgendeiner Weise genießen, sie wirkt im Gegenteil eher wie ein Gast, ein Fremdkörper im eigenen Leben. Später gibt’s eine verschmitzte Satire auf all die erbsenzählenden Zahlenkrämer, die sich da in Paris versammeln und offensichtlich selbst glauben, hier einer extrem spannenden Beschäftigung von weitreichender Bedeutung nachzugehen, die ihre nationalen Kilos wie Staatsschätze behandeln und ehrfurchtsvoll auf das erste Referenzkilo von achtzehnhundertsowieso starren. Auch hier bleibt Hamer cool, lakonisch, lässt allein die Bilder sprechen, und das tun sie auf ganz köstliche Weise auch. Mit der ersten Begegnung von Marie und Pi aber kommt ein anderer Ton ins Spiel, eine andere emotionale Qualität, und wir sehnen uns regelrecht nach jedem weiteren Zusammentreffen, weil ihre Annäherung so unspektakulär, unaufgeregt und dennoch so spannend geschildert wird. Aus den frostigen Blautönen werden plötzlich warme Farben, Marie trägt sogar mal ihr Haar offen und kommt in legerer Kleidung völlig anders rüber als zuvor in ihrer Amtsuniform. Es wird kein großes Brimborium veranstaltet, es bedarf keiner großen Dramen oder Verwicklungen, es gibt drei oder vier Treffen, zunächst im beruflichen Rahmen, dann jedoch nimmt Marie auch die Gelegenheit schon ganz gern wahr, und zuletzt ist es ein Urlaub, der die endgültige Entscheidung bringt. Die letzte Szene in der Badewanne ist eine echte Wucht, dann plötzlich ist die Geschichte vorbei, und alle im Kino schnappen überrascht nach Luft – wie, schon vorbei? Wir dachten, es geht jetzt erst richtig los. Tja, für Hamer eben nicht, der hat seine Geschichte in dem Moment fertig erzählt und überlässt Maire und Pi quasi sich selbst und ihrem Glück, nicht ohne uns einen letzten sexy Gag zu gönnen. 

   Dies ist also skandinavisches Kino vom allerfeinsten, wenn man es denn so nehmen kann, wie es eben ist. Das kann ich, und deshalb habe ich „1001 Gramm“ sehr genossen und hoffe schon jetzt auf weitere Highlights von dort oben – ein viel gepriesenes läuft ja bereits bei uns… (2.1.)