45 Years von Andrew Haigh. England, 2015. Charlotte Rampling, Tom Courtenay
Fünfundvierzig Jahre sind Kate und Geoff verheiratet, und doch geschieht es, dass kurz vor ihrem Hochzeitstag ihre seit langem eingespielte, im Guten wie im Schlechten routinierte Zweisamkeit aus den Fugen gerät, und das vermutlich für immer. Der Körper einer Frau wird in einem Gletscher in den Schweizer Alpen gefunden. Diese Frau hieß Katja, war eine Deutsche aus Berlin, die erste große Liebe von Geoff, und sie stürzte vor mehr als fünfzig Jahren auf einer gemeinsamen Wanderung in Richtung italienische Grenze in eine Felsspalte. Geoff hatte Kate davon vor langer Zeit einmal erzählt und danach nie wieder, und jetzt plötzlich taucht ein Gespenst aus der Vergangenheit wieder auf und steht zwischen den beiden, und obwohl sich Geoff nach anfänglichem Abblocken wirklich darum bemüht, alles wieder wie vorher sein zu lassen, hat die Geschichte bei Kate Spuren hinterlassen, die sich wohl nicht mehr löschen lassen.
Ich würd für mein Leben gern hören, wie eine Frau den Film sieht. Ich wette, total anders als ein Mann. Kate steht im Mittelpunkt der Geschichte, folglich wird die ganze verwirrende Vielfalt und Komplexität weiblicher Gemütszustände hier durchdekliniert, und da Geoff als Mann zwangsläufig völlig überfordert damit ist, zieht er sich zurück, weicht aus, will sich nicht den bohrenden Gesprächen stellen, und macht damit alles unweigerlich noch schlimmer. Anfangs löst sich ganz viel in ihm, er beginnt zu erzählen, lebhaft im Detail, präzis in seinen Erinnerungen, was sie bereits vor den Kopf stößt, da er sich ansonsten bereits in eine gewisse Altersvergesslichkeit hatte fallen lassen. Kate nimmt alles sofort persönlich, hört jedes Detail auf einem einzigen Ohr, lässt sich nicht für eine Sekunde auf seine Situation und Perspektive ein, ist nur bei sich und ihren Empfindungen: Überraschung, Schock, Neugier, Eifersucht, Verletztsein, Trauer. Sie kann nicht anders, obgleich sie doch genau weiß, dass Katja lang vor ihr war und eigentlich nichts mit ihr zu tun hat. Plötzlich aber hat alles miteinander zu tun, die kleinen und vor allem auch die großen Entscheidungen, plötzlich ist Katja überall, hängt ihr Parfum in jeder Ecke ihres gemütlichen Hauses. Auf dem Dachboden finden sich Bilder, Erinnerungen, Dias, Reisetagebücher, und natürlich kann Kate nicht widerstehen, und natürlich ist sie nachher nur noch mehr verletzt. Sie und Geoff finden keinen Weg, darüber zu sprechen, beide ziehen sich voneinander zurück, von den ersten leichten Vergiftungserscheinungen eskaliert die Spannung zwischen ihnen langsam aber sicher bis hin zu einer wirklich ernstzunehmenden Entfremdung am Schluss, wenn sie sich auf der Tanzfläche, gerade als „ihr“ Song gespielt wird, weinend von ihm losreißt, und alles, was er ihr kurz zuvor über seine Liebe zu ihr sagte, scheinbar überhaupt keine Bedeutung mehr hat. Der letzte Schock, der sozusagen das Fass zum Überlaufen brachte, war das Foto, auf dem man ganz deutlich eine schwangere Katja erkennen kann, und da Kate und Geoff selbst keine Kinder haben und Kate ausgerechnet auf diesen Aspekt so empfindlich reagiert, kann man vermuten, dass die Kinderfrage zwischen den beiden ein umstrittener, sensibler Punkt ist. So, als sei das bei dem Unfall verlorene Kind die Ursache für die Kinderlosigkeit von Kate und Geoff. Hier bleibt das Drehbuch interessanterweise völlig offen, wir erfahren es einfach nicht, die gemeinsame Geschichte der beiden wird gottlob nicht bis in den letzten Winkel ausgelotet, wir dürfen nur annehmen, dass das Zusammenraufen nicht immer leicht war und besonders Kate vielleicht das eine oder andere Opfer bedauert. Und so endet der Film nicht in wohlfeiler Harmonie, sondern eher auf einem dunklen Akkord, der nahelegt, dass die beiden vielleicht nicht wieder zu dem finden, was sie über fünfundvierzig Jahre gemeinsam verbringen ließ. Auf ebenso eindrucksvolle wie auch bedrückende Weise wird uns klar (falls wir es nicht sowieso längst wussten…), dass auch eine scheinbar so stabile, sichere Verbindung durch ein einziges Ereignis, das noch nicht mal was mit der Verbindung an sich zu tun hat, gefährdet und möglicherweise zum Einsturz gebracht werden kann. Wir wandeln auf dünnem Eis, immer, auch nach so vielen Jahren noch.
Andrew Haigh hat dieses Ehedrama auf eindrucksvolle Weise umgesetzt, hat ein Kammerspiel für zwei Meisterschauspieler inszeniert und sich zurecht ganz auf die beiden verlassen. Faszinierend, wie die beiden mit kleinsten, ganz unterschiedlichen Akzenten ihre jeweiligen Charaktere vertiefen, ausloten. Bei Charlotte Rampling geht noch immer alles über den Blick. In ihren Augen lässt sich alles ablesen, die übrige Gestalt nimmt sie zurück, obwohl ihr Spiel an sich nicht mal körperlos ist, aber dennoch so dezent und zurückgenommen, dass uns zunächst ihr Gesicht bleibt, und dort steht alles geschrieben. Die Kamera verharrt manchmal einfach nur, sieht sie für eine Minute an, und wir erleben, wie ihr höfliches, nur für die Gesellschaft ausgestelltes Lächeln schwindet, einem introvertierten, ernsten Ausdruck weicht, in dem ihr innerer Aufruhr ohne Worte vollkommen greifbar wird. Wenige Schauspielerinnen verfügen über eine solche Gabe. Courtenay hingegen agiert viel eher physisch, benutzt seinen Körper, um das Alter spürbar zu machen, das Geoff schon viel stärker ergriffen hat als Kate. Sein mitunter etwas unsicherer Gang zeugt davon, die schlurfenden Schritte, die nicht mehr ganz aufrechte und etwas starre Haltung, der in Kurzsichtigkeit nach vorn gebeugte Kopf. Dieser Kopf ist eben nicht mehr so klar und scharf wie einst, sperrig und bockig durchaus, aber eben schon beeinträchtigt. Ein alter Mann, unrasiert, nicht mehr sonderlich gepflegt, nachlässig gekleidet, bedächtig und karg in der Sprache, weswegen die Intensität, mit der er plötzlich über Katja zu erzählen beginnt, umso auffälliger wirkt. Es gibt zwar einige Nebenrollen, doch die gut neunzig Minuten gehören vollkommen diesen beiden, und sie füllen sie so aus, dass ich ihnen immer weiter zusehen und –hören möchte. Dazu kommt ein überaus langsamer, fast meditativer Erzählrhythmus, der vor allem der etwas melancholischen, herbstlichen Atmosphäre sehr viel Raum gibt, und das hat mir besonders gut gefallen. Die flache Landschaft Norfolks, die täglichen Gänge mit dem Hund übers Land, die gelegentlichen Wege in die Stadt, die langen Abende zuhause. Mehr gibt‘s nicht zu sehen und mehr ist auch gar nicht nötig, denn es geht einzig um die beiden und darum, was diese eine lang zurückliegende Geschichte plötzlich mit ihnen macht. Ein im besten Sinne klassischer Schauspielerfilm, ein im besten Sinne klassisches psychologisches Drama, das sich völlig vom Tempo dieses Jahrhunderts abkoppelt und sich darauf konzentriert, was wichtig ist. (16.9.)