A most violent year von J.C. Chandor. USA, 2014. Oscar Isaac, Jessica Chastain, David Oyelowo, Albert Brooks, Alessandro Nivola, Elyes Gabel, Catalina Sandino Moreno
Dies ist definitiv keiner jener Filme, die man zusammen mit der Kinokarte am Schluss zerknüllt und wegtut, dies ist einer jener (leider) eher seltenen Filme, die einen noch ein Weilchen begleiten, die noch ein Stückchen mitgehen bis zum Auto oder zur Straßenbahn und die sich auch erst im nachträglichen Gespräch so richtig entfalten. Während des Zuschauens kommt man nicht so recht dazu, alle Einzelheiten und Einsichten zu sortieren und zu benennen, dazu ist der Film auch einfach zu spannend, sodass erst danach ausgedrückt werden kann, was zuvor durchaus schon erfühlt wurde. Keine sehr alltägliche Erfahrung, erst recht nicht im US-Kino.
Der American Dream ist die frühen 80er transportiert: Abel Morales hat sich in New York vorangekämpft, ihm gehört nun die Standard Oil, und er begehrt den Kauf eines großen Grundstücks direkt am Fluss, das ihm viel Lagerfläche und vor allem direkten Zugang zu den Transportwegen bescheren würde. Er verhandelt mit den jüdischen Besitzern, macht einen Preis, und versichert sich eines lukrativen Bankkredits, der ihm ermöglicht, den Kauf zu realisieren. Seit längerem jedoch werden seine Tankwagen immer wieder Ziele von Angriffen Unbekannter – die Fahrer werden niedergeschlagen, die Wagen gekapert, das Öl wird abgepumpt und irgendwo verhökert. Morales weiß genau: Wenn er sich provozieren lässt, wenn er seine Fahrer bewaffnet und Gewalt riskiert, gerät sein Ruf in Gefahr und damit automatisch der Kredit. Doch dann dreht einer der Fahrer doch durch und schießt auf offener Straße, und es geschieht genau das, was Morales unbedingt verhindern wollte. Nun hat er nur noch ein paar Tage, um anderthalb Millionen Dollar aufzutreiben, und in seiner Not geht er alle möglichen haarsträubenden Deals ein. Bevor er sich aber den übelsten Mafiosi ausliefert, schreitet doch noch die Frau Gemahlin ein, deren Vater selbst zu jenem Verein gehört, und eröffnet ihm, dass sie über Jahre Geld aus der Firma veruntreut und angespart hat, sozusagen für Notfälle genau wie diesen. Er lehnt erst entrüstet ab, schließlich aber erkennt er, dass er praktisch keine andere Option hat, der Kauf kommt zustande, und am Schluss sieht man ihn, den stolzen Business Man, auf seinem hart erkämpften Grund und Boden stehen.
Dieser Abel Morales ist das ganze Zentrum der Geschichte und eine Figur, an der man schon zu knacken hat. Ein Immigrant, der genau weiß, woher er kommt, der aber nur noch Spanisch spricht, wenn es absolut nötig ist, und der seine Fahrer instruiert, Englisch zu sprechen. Ein Profi, der genau gelernt hat, wie man mit Menschen umgeht, wie man ihr Vertrauen gewinnt, wie man mit ihnen erfolgreich Geschäfte macht: Der lange, direkte, offene Blick ist das Geheimnis, und den wendet er immer und überall und bei jedem an. Ein fürsorglicher Ehemann und Familienvater, der seiner Frau und seinen beiden Töchtern ein Leben in Sicherheit und Wohlstand gewähren möchte, denn das ist das große Ziel aller Immigranten, immer gewesen. Ein Moralist, der fest an gewisse Werte glaubt, und Gewalt gehört nicht dazu. Was er begehrt, das will er haben, aber das will er auf ehrliche, friedliche Weise bekommen und nicht mit Hilfe von Waffen oder Einschüchterung. Aber auch ein extrem ehrgeiziger, selbstsüchtiger Streber, der sein großes Ziel fest im Blick hat und bereit ist, dafür so gut wie alles andere zu vernachlässigen, und der auch keine Bedenken hat, andere, weniger zielstrebige Menschen dafür zurückzulassen, denn sein zentrales Credo hat er direkt dem alten American Dream entnommen: Jeder ist seines Glückes Schmied und: You can get it if you really want. Diese fast schon religiöse Inbrunst stößt die Leute in seiner Umgebung immer mal vor den Kopf, die eigene Gattin eingeschlossen, denn die ist Mafiosotochter und hat gelernt, mit anderen Bandagen zu arbeiten. Folglich verachtet sie ihn teilweise schon ein bisschen für seinen pazifistischen Kurs, der in diesem Land natürlich nicht verstanden oder bestenfalls als kapitale Schwäche ausgelegt wird – dir will jemand ans Leder? Hol die Wumme raus und zeig ihm, wer hier der Chef ist! Morales versucht hartnäckig, sich diesem fatalen Kreislauf der Gewalt zu entziehen, doch gerät er immer wieder in grenzwertige Situationen und muss erleben, dass seine Mitarbeiter ihm auf seinem Weg nicht folgen wollen, während die Konkurrenz ihn schlicht als Spinner betrachtet. Seine Förmlichkeit, seine Höflichkeit, die teilweise fast an Demut grenzt, sein unbedingter Wille, nicht anzuecken, machen ihn zu einem Sonderling in einem Geschäft, das sich durch knallharte Marktkämpfe auszeichnet und in dem für moralische Zimperlichkeit bestimmt kein Platz ist. Sein Freund und Berater versucht ihm dies klarzumachen, seine Frau liegt ihm ständig damit in den Ohren, du musst durchgreifen, du musst härter werden, doch je mehr sie auf ihn einreden desto entschiedener bleibt er bei seiner Linie. Erst als ihm das Wasser bis zum Hals steht, fasst er den Entschluss, ihr Angebot anzunehmen, wohl wissend, dass er damit einen moralischen Offenbarungseid leistet. Doch da ist ja dieses große Ziel vor seinen Augen, und das ist eben doch größer als der Wille, integer und sauber zu bleiben.
Chandor erzählt den Werdegang des Geschäftsmannes Morales sehr ruhig und bedächtig, fast gedämpft, und schafft so ein sehr sorgfältiges, vielschichtiges Personen- und Zeitporträt. Wir lernen diesen Mann tatsächlich immer wieder von einer neuen Seite kennen, fühlen uns mal zu ihm hingezogen und mal deutlich von ihm abgestoßen und begreifen bald, dass das eine nicht ohne das andere funktioniert. Seine ruhige, unbeirrbare Entschlossenheit hat abwechselnd eindrucksvolle und auch unangenehme, und in Oscar Isaacs brillanter Darstellung kommen beide Aspekte voll zu Geltung, ohne dass Morales dabei einer einseitigen Bewertung ausgesetzt würde. Chastains Ehefrau dagegen ist deutlich distanzierter, eine kalte, berechnende Lady, und die beiden Schauspieler bringen die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere bestens zur Geltung. Hinzu kommt noch David „Selma“ Oyelowo als scheinbar unbestechlicher Staatsanwalt und Ermittler, der erst ganz gegen Ende im Gespräch mit Morales noch ganz andere Züge offenbart, und mit einigem Personal drumherum ergibt sich dennoch ein sehr intensives, höchst konzentriertes Drama um nur wenige Hauptfiguren herum, die folglich umso mehr Raum zur Entfaltung bekommen. Die Geschichte eines Mannes auf dem Weg nach oben und die Frage, welchen Preis er dafür zu zahlen bereit ist. Schlüsselszenen sind auch seien Gespräche mit dem Fahrer Julian, der sich als erster mit einer Waffe zu wehren versucht und damit alles ins Rutschen bringt und der sich am Schluss vor Morales‘ Augen eine Kugel in den Schädel ballert. Morales versucht, ihn zu stärken, ihm zu helfen, doch er hat klare Grenzen, und macht das auch Julians Frau gegenüber klar: Sobald er mir ins Geschäft pfuscht und mir schadet, verstehe ich keinen Spaß mehr. Wenn er nicht stark genug ist, ist das nicht mein Problem. Genau in diese Schublade sortiert er Julians Selbstmord auch, bedauerlich, aber eben die zwangsläufige Folge seiner Schwäche. In diesen Moment wird der Film fröstelnd kühl und zeigt die Abgründe des amerikanischen Traums so überzeugend und einprägsam wie jeder Klassiker, der je zu diesem Thema verfasst wurde. Ein sehr bemerkenswerter, sehr konsequenter und mutiger US-Film, der sich keinen Deut um Stromlinienform kümmert, inhaltlich sowieso künstlerisch extrem geschlossen und anspruchsvoll. Bloß die Wahl von Marvin Gayes „Inner city blues“ wollte mir nicht ganz einleuchten, bei aller Liebe zu diesem großartigen Song. Es ist dies dennoch der Song aus der Sicht der Opfer, und zu denen will Morales ganz sicher nicht gehören. Und es ist definitiv ein Song der 70er, und die waren hier schon längst gegessen. (30.3.)