Als wir träumten von Andreas Dresen. BRD, 2014. Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Marcel Heupermann, Joel Basmann, Frederic Haselon, Ruby O. Fee, Chiron Elias Krase, Luna Rösner, Tom von Heymann, Pit Bukowski, Roland Kukulies

   Dani, Rico, Mark, Pitbull und Paul erleben gemeinsam in Leipzig die Zeitenwende – auferstanden aus Ruinen, vorher, nachher. Wir sehen sie als zwölf- dreizehnjährige Schüler vor der Wende und dann als sechzehn- siebzehnjährige Jungs danach. Vorher: Der strikte Parteidrill zwischen Pionierhalstuch, auswendig hergesagten Parolen, frühen Versionen der öffentlichen Selbstkritik vor Kader und Vertrauensschülerin, Notfallübungen inklusive der erhofften Mund-zu-Mundbeatmung durch die hübschen älteren Pioniermädchen. Manche Struktur ist früh erkennbar, vor allem bei den besten Freunden Dani und Rico: Der eine eher besonnen, vorsichtig, manchmal auch ein bisschen feige, der andere mit einem unheilvollen Hang zum Scheiße bauen, zur Selbstzerstörung. Der eine, der das nette Mädchen aus der Klasse eher von fern bewundert und schließlich hinnehmen muss, dass sie mit den Eltern rübermacht, der andere, der gewohnt ist, sich zu nehmen, was er begehrt. Ohne viel Federlesens werden wir hin- und hergeworfen zwischen den Epochen, erleben Brüche und auch Kontinuitäten, Kontinuitäten am meisten in der Entwicklung der Charaktere und den Konsequenzen, die sich daraus ergeben und die zum Teil bitter bis fatal sind, Brüche am radikalsten in den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen und was die wiederum mit den Leuten gemacht haben. Die rundum behütete, bevormundete, bewachte Schmalspurgesellschaft der DDR, die eigentlich gar keine Träume erlaubte, und wenn dann nur Träume nach sozialistischer Doktrin, Anfang der 90er dann eine Art Vakuum, der freie Fall ins Alles und Nichts, eine Zeit scheinbar völlig ohne Ordnung, in der sich jeder neu finden musste, instinktiv natürlich noch immer bezogen auf das in der DDR gelernte, verinnerlichte Wertesystem, andererseits aber verlockt von der vermeintlichen totalen Freiheit der neuen Konsumideologie. Hier im Drehbuch wird nicht der Fehler begangen, diesen drastischen Umschwung als alleinige Ursache aller Irrwege und Katastrophen der Protagonisten heranzuziehen, doch ist der Einschnitt, den diese fünf stellvertretend für alle anderen erleben, so tief und grundlegend, dass zumindest eine enorme Orientierungslosigkeit auftritt, vielleicht auch eine Hilflosigkeit – was sollen wir mit der Zukunft anfangen? Der erste Reflex: Party, richtig auf die Kacke hauen, Spaß haben, die Befreiung der allmächtigen Autorität, die ja in jeden einzelnen Bereich des Lebens hineinreichte, gebührend feiern. Und das tun die fünf ausführlich – volle Pulle Überholspur, saufen bis der Arzt kommt, andere nette Sachen einwerfen, Autos demolieren, sich mit einer feindlichen Nazigang prügeln, halt alles, was offenbar zum Großwerden dazugehört. Und als sie dann aus einem gammeligen Abbruchhaus kurzerhand eine angesagte Technodisco machen wollen, scheint sich ihre wilde Energie endlich irgendwo zu kanalisieren und in was Konstruktives umzuwandeln. Doch die Nazis sind am Ende stärker und die Fliehkräfte auch – die Drogen werden härter, die Boxkämpfe auch, der eine wird selbst Dealer, andere bleiben Konsumenten, nur Dani bleibt im Innern immer der etwas Vorsichtige und auch etwas Feige, verliebt sich hoffnungslos in Sternchen, die aber lieber eine Karriere von der Nazibraut zur Pufftänzerin macht und sich höchstens mal von Rico auf dem Klo vernaschen lässt. Am vorläufigen Ende des Weges warten Knast, Chaos, Tod, Frust und Desillusionierung. Und dennoch der Satz, den Dani zu Rico sagt, als der sich von den Bullen abführen lässt: Das Beste kommt noch.  

   Ein in jeder Hinsicht gewaltiger, fulminanter Roman wird zu einem in jeder Hinsicht gewaltigen, fulminanten Film. Andreas Dresen hat dafür seine Bildersprache renoviert und angepasst, legt zum Teil ein atemberaubendes Tempo hin, unterbricht die wilde Fahrt aber immer wieder durch stille, tiefe Momente, fährt ein eindrucksvolles und sehr effektvolles Stroboskop- und Schnittstakkato auf, um die Lebensgier, die Abenteuerlust und auch die Selbstzerstörungswut der Clique zu illustrieren, und ich finde, dass ihm das ganz großartig gelungen ist. Sein gewohnt faszinierend sensibler Blick auf Mensch und Milieu kommt ihm ebenso zugute wie sein phänomenaler Umgang mit Schauspielern, denn was die jungen und halbwüchsigen Darsteller hier auf die Beine stellen, ist große Klasse, ist ein komplexes, leidenschaftliches und doch reflektiertes Porträt einer Generation, die genau zwischen den Systemen heranwachsen muss: Gestern noch „Seid bereit – Immer bereit“, heute auf einmal gar nichts mehr, jeder für sich. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die fast durchgängige Abwesenheit der Elternhäuser – zu DDR-Zeiten wurde ihre Erziehungsfunktion automatisch vom Staat übernommen, und sie selbst konnten allerhöchstens bestätigend wirken, später dann waren die Eltern mit ihrer eigenen Situation und ihren eigenen Problemen so beschäftigt, dass sie den Jungs auch keine Unterstützung mehr sein können. Dresen und sein Autor Wolfgang Kohlhaase machen gar nicht so viele Worte darum und bringen dennoch perfekt zum Ausdruck, dass das, was einerseits unerträglich gängelte und einengte und bevormundete andererseits eben auch Schutz und Orientierung gab, die dann nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ersatzlos verschwanden. Ebenso überzeugend legen sie dar, dass jede Befreiung von einem solch repressiven, im Grunde diktatorischen System fast zwangsläufig sehr radikal und gewaltsam erfolgen muss – ein erleichtertes Ausatmen ist kaum anzunehmen, viel eher ein Wutschrei, ein brüllendes, durchaus blindwütiges Losrennen in irgendeine Richtung, eigentlich egal welche, denn genau Vorstellungen von ihrer Zukunft haben die fünf sowieso nicht, können sie auch gar nicht haben, denn sie sind nicht vorbetreitet worden auf das, was mit ihnen und ihrem Land passiert. Wichtig ist vor allem ihre Freundschaft, ihr Zusammenhalt, den sie sich immer wieder versichern, gerade auch in Momenten, wenn es eng wird, wenn jemand in Bedrängnis gerät. Besonders Dani verhält sich sehr ambivalent, ihm widerstrebt es eigentlich total, alles einfach an die Wand zu fahren, sich selbst systematisch kaputt zu machen. Er versteht sich ein wenig als Ricos Hüter, versucht, ihn bei der Stange zu halten, ihn behutsam in ruhigere Fahrwasser zu manövrieren, zum Teil auch aus schlechtem Gewissen, denn schon damals in der Schule vermochte er vor dem „Anhörungsausschuss“ nicht hundertprozentig zu ihm zu stehen, und als später die Nazis kommen und Rico und Pitbull verdreschen, versteckt sich Dani lieber, statt sie ins Haus zu lassen. Die Prügel, die wer dann selbst später kassiert, nimmt er quasi als verdiente Bestrafung hin, als eine Art Schuldenablass dem Freund gegenüber.

 

   Es ist soviel drin in dieser Geschichte, und doch hat es Dresen fabelhaft geschafft, den Film nicht überladen oder zu schwer wirken zu lassen. Wuchtig ist er schon, stark und dicht, ein furioses Zeit- und Generationsporträt, intensiv und emotional, mal zärtlich und solidarisch, mal auch polemisch und wütend, auf keinen Fall aber bewertend oder pädagogisierend. Ein inhaltlich, künstlerisch und schauspielerisch wirklich großartiger Film, der sich zu Dresens allerbesten gesellt, der nur ein einziges kleines Manko hat, und das liegt beim Drehbuchautor: Der ist gut über achtzig und hat eine Menge Verdienste in Ost und West gesammelt, hat mit „Sommer vorm Balkon“ einen der schönsten Dresen-Filme geschrieben, mit „Whisky mit Wodka“ leider auch den einzig wirklich mittelmäßigen, wie ich finde. Er kann eine ganze Menge, hat ein fabelhaftes Gespür für schlagfertige Dialoge, nur eins kann er offensichtlich nicht so gut: Kinder- und Jugenddialoge schreiben. Die hören sich hier häufig schlicht und einfach falsch an (zum Beispiel zwischen Dani und Katja oder später zwischen Dani und Sternchen), und das fand ich teilweise schon etwas störend. Meine Begeisterung für den Film im Ganzen sehe ich dadurch aber nicht beeinträchtigt. (3.3.)