Birdman von Alejandro González Iñárritu. USA, 2014. Michael Keaton, Emma Stone, Edward Norton, Naomi Watts, Amy Ryan, Andrea Riseborough, Zach Galifianakis, Lindsay Duncan

   Señor Iñárritu hat in seinen beiden Meisterwerken “21 Gramm” und “Babel” sein eigenes, unverwechselbares filmisches Universum geschaffen, zwei grandiose, extrem intensive und nur die ganz essentiellen Fragen berührende menschliche Dramen, die zusammen mit dem kaum weniger beeindruckenden mexikanischen Erstling „Amores perros“ eine Trilogie bilden, auf die jeder moderne Filmemacher sehr stolz wäre. Es war eigentlich unvermeidlich, dass er dieses Niveau auf Dauer nicht würde halten können, weshalb ich von „Biutiful“ auch nicht sonderlich enttäuscht war, denn schlecht war der keineswegs, nur eben nicht so gut wie die drei Vorgänger. Mit “Birdman“ nun hat Iñárritu sich nun- vorübergehend? – von der Schwere und Tiefe seiner Themen verabschiedet und sich auf ein ganz anderes Spielfeld begeben, ohne dabei seine Kunstfertigkeit und Brillanz als Filmgestalter hinterwegs zu lassen. Eine sehr originelle, schräge, wunderbar einfallsreiche und skurrile Komödie aus der Welt des Theaters, des Films, der New Yorker Kulturszene, eine fulminante, wenngleich satirische Hommage an alle drei und noch so einiges mehr. Launisch, unberechenbar, unvorhersehbar, ein Füllhorn an Ideen und natürlich ein Festmahl für einen, der gern auch mal über die gewohnten Grenzen hinausgeht, besser noch, für den diese gewohnten Grenzen eigentlich gar nicht existieren.

   Birdman ist der Superheld, durch dessen Verkörperung im Kino Riggan Thompson einst zum Superstar wurde. Das ist lange her, nach drei Filmen war irgendwie Schluss, der vierte kam nie zustande und wäre wohl seine einzige Chance, wieder an alte Glanzzeiten anzuknüpfen. Birdman ist vermutlich auch das Über-ich, das immer zu ihm spricht, höhnisch, nervig, unerbittlich, das Echo des alten Machos und Machers, das die schlaffe Kopie der Jetztzeit immer wieder dazu antreiben will, es nochmal allen zu zeigen. Doch was tut Riggan? Schnappt sich eine Short Story von Raymond Carver und will daraus eine Broadwayinszenierung machen, also Kunst. Das ist das genaue Gegenteil vom alten, glitzernden Starimage, das genaue Gegenteil von cool und sexy und das genaue Gegenteil von kommerziell erfolgversprechend. Riggan hält aber daran fest, kämpft sich durch das tägliche Chaos der Probe, muss nochmal eine Umbesetzung vornehmen, weil ein Schauspieler eine Lampe auf die Rübe kriegt, ersetzt den Stümper zwar durch einen tollen Darsteller, der aber leider auch ein fieses Ekel ist und gleich die frisch aus der Entzugsklinik zurückgekehrte Tochter angräbt. Weiterhin hat sich Riggan mit der Ex rumzuschlagen, mit seine aktuellen, angeblich schwangeren Freundin, mit dem ewig verzagten Kumpel und Produzenten der Aufführung, und allgemein einer Umwelt, die ihm einfach nicht zutraut, solch ein Projekt stemmen zu können. Am schlimmsten setzt ihm natürlich die innere Stimme zu, die ihn immer wieder verlocken will, den vierten Birdman-Film zu machen und es nochmal allen zu zeigen. Die Vorpremiere endet im totalen Fiasko, das aber irgendwie ein Bombenerfolg wird, und auch für die offizielle Premiere hat sich Riggan eine prima Pointe ausgedacht…

   Diese knappe Zusammenfassung der Story gibt nicht annähernd den Spaß wieder, den ich beim Zuschauen hatte. Iñárritu hat seinem Temperament freien Lauf gelassen, hat extrem spaßige mit nachdenklicheren Momenten vermischt, hat viel New Yorker Feeling hinzugefügt, zahlreiche freche In-Jokes aus der Filmszene und natürlich ein paar Pfeilchen in Richtung Hollywood abgeschossen, wobei man zugeben muss, dass diese Pfeilchen nicht allzu giftig sind. Die Twitter- und Facebookwelt kriegt ihr Fett weg, ebenso die idiotische Masche, dass jeder halbwegs erfolgreiche Film mindestens drei bis vier Sequels verpasst bekommt. Dazu werden neurotische Theaterleute aufs Korn genommen, der ganze Starkult und Hype, der zum Teil auch am Broadway gelebt wird, größere und kleinere Sternchen vom Broadway, Stadtneurotiker wie frisch aus einem alten Woody-Allen-Film entsprungen und das sogenannte gehobene Feuilleton kriegt auch einen mit, hinreißend fischig und missgünstig verkörpert von Lindsay Duncan als verbiesterte Kritikerin, die in ihrer Welt einfach nicht zulassen will, dass ein Star auch ein Schauspieler sein kann. Riggan kriegt’s von allen Seiten, gerade auch von der privaten, hat an sämtlichen Fronten zu kämpfen und sieht letztlich keinen anderen Ausweg mehr, als im Finale die Pistolenattrappe durch eine echte zu ersetzen. Ein echter Held unter Dauerstress, der trotz aller Anfechtungen an seinem Vorhaben festhält, sich etwas beweisen will, obwohl ihn das so manche prekäre und hochnotpeinliche Situation kostet. Iñárritu widmet ihm schon den größten Teil seiner liebevoll ironischen Aufmerksamkeit, doch rundet er sein Porträt der Theaterszene ab durch ein paar wunderbar platzierte Szenen auf dem Umfeld, die allesamt ein hochneurotisches, rundum vermintes und äußerst delikates Milieu beleuchten und einerseits sehr zu unserem Vergnügen beitragen, andererseits verstehen helfen, wieso Riggan in solchen Schwierigkeiten ist. Mit Ausnahme seiner ziemlich besonnenen Exfrau ist weit und breit keine vernünftige Stimme zu vernehmen, kaum jemand, der in der Lage wäre, einen Bezug zur realen Welt herzustellen, und so dümpelt das ganze Theatervolk stets in liebenswürdiger, manchmal aber auch bemitleidenswerter Isolation ganz in seiner eigenen Suppe – und wer weiß, wozu es gut ist…

 

   Iñárritu hat mit viel Lust an der Groteske inszeniert, lässt schon mal die Gesetze der Wirklichkeit und der Zeit außer Kraft treten, gleitet sehr elegant von einer Szene in die nächste, spielt des Öfteren mit den Wahrnehmungsebenen, das heißt, unterminiert auch unser Vertrauen in das, was nun tatsächlich geschieht oder nur in Riggans überreizten Phantasien. Sein tolles Ensemble nimmt sich die schrillen Figuren mit ebensolchem Spaß vor, und es ist schon eine Freude, ihnen dabei zuzusehen, nicht nur Keaton, der natürlich reichlich Gelegenheit hat, sein eigenes Image als Ex-Batman-Star auf die Probe zu stellen. Wenn ich „Birdman“ mit früheren Filmen von Iñárritu vergleiche, ist mir klar, dass er weitaus weniger Spuren hinterlassen wird, aber ein solcher Vergleich wäre nicht ganz fair, weil er einfach ganz anders ist. Nicht mehr und nicht weniger als eine hinreißende Komödie mit tragischen Untertönen und auf jeden Fall allerbeste Unterhaltung. (2.2.)