Difret (Das Mädchen Hirut) von Zeresenay Berhane Mehari. Äthiopien, 2014. Meron Getnet, Tizita Hagere, Haregewine Asefa, Brook Sheferaw, Mekonen Laeake, Meaza Tekle, Moges Yohannes

   Die vierzehnjährige Hirut wird auf dem Weg von der Schule nach Hause von sechs berittenen Männern entführt, in einer Hütte gefangen, vergewaltigt, geschlagen und soll ihrem Vergewaltiger hernach als Ehefrau zugeführt werden, ganz nach altem Brauch auf dem Lande. Sie zeigt sich für so viel zärtliche Brautwerbung leider nicht empfänglich, flieht und tötet schließlich ihren Zukünftigen mit dessen Gewehr. Klarer Fall von Notwehr? Aber nicht für die strikt männliche Rechtsprechung, die klagt sie als Mörderin, und auf Mord steht natürlich die Todesstrafe. Die engagierte Frauenrechtlerin und Anwältin Meaza Ashenafi aus Addis Abeba wird auf den Fall aufmerksam und beschließt, für Hiruts Freispruch zu kämpfen, wohl wissend, dass sie damit gegen ein mächtiges Bollwerk aus patriarchalischen Strukturen und Traditionen anrennen muss, durchaus mit unklarem Ausgang. Hirut wird am Schluss tatsächlich freigesprochen, weiß aber selbst schon, dass auch ihrer jüngere Schwester jederzeit ähnliches widerfahren könnte, weshalb sie auch die Hauptstadt wieder verlässt und zurück in ihre Dorf geht.

   Einmal mehr: Eine wahre Geschichte. Und einmal mehr: Ist eigentlich egal, denn auch als Fiktion wäre diese Geschichte vollkommen überzeugend und gültig, und der Film wäre in seiner Wirkung keineswegs beeinträchtigt. Diese Wirkung beruht zu großem Teil darauf, dass die Regie sehr wenig unternimmt, um sich dem internationalen Publikum anzubiedern, egal, ob da im Nachspann der Name Angelina Jolies auftaucht – „Das Mädchen Hirut“ ist sehr weit von gefälligem Betroffenheitskino made in Hollywood entfernt, und das ist verdammt gut so. Ein afrikanisches Thema, ein rein afrikanischer Film, und so kommt er uns auch vor, ganz ohne glättende oder kommerzialisierende Maßnahmen, wie ich sie in unglückseligen Machwerken wie „Wüstenblume“ oder „Feuerherz“ zur Genüge erleiden musste. Hätte ich offen gestanden nicht erwartet, nachdem überall zuerst mal der Name der prominenten und eben auch zugkräftigen Coproduzentin genannt wird, kann ich dann ja auch mal positiv erwähnen.

   Es geht um Frauenrechte in einer traditionell männerdominierten Gesellschaft, und zwar nicht um ihren Erhalt, sondern erst mal zum ihre Anerkennung, denn Hirut und andere Mädchen und Frauen haben schlicht und einfach keine Rechte. Wenn es von jeher üblich ist, dass junge Mädchen entführt und dann geheiratet werden, wird jede Auflehnung dagegen als Rechtsbruch verstanden und nicht als Versuch, für Freiheit und die freie persönliche Entscheidung zu kämpfen. Die Männer aus dem Dorf, die dem Bräutigam helfen, sind über seinen Tod empört, viel mehr aber scheinbar darüber, dass ein Mädchen, also ein durch und durch rechtloses Wesen, sich gegen den ganz normalen Lauf der Dinge wehrt. Hiruts Vater sieht das eigentlich auch so, weshalb er nicht sonderlich vehement für das Leben seiner Tochter eintritt. Ihm ist klar, dass sie über ihre Familie Schande gebracht, sie an den Rand der Gemeinschaft gedrängt hat, und man bekommt schon den Eindruck, dass das für ihn schwerer wiegt als ihre Unversehrtheit. Um die wird es früher oder später sowieso geschehen sein, das weiß er nur zu gut, das hat er bei der Ältesten erlebt, das war schon immer so und wird sich nicht ändern. Ganz ähnlich reagieren die lokalen Polizeibehörden, Notwehr als möglich es Motiv wird nicht mal entfernt in Betracht gezogen. Notwehr – wogegen? Und seit wann wehrt sich ein Mädchen? In sehr prägnanten, bissigen Szenen wird das Aufeinandertreffen zweier kaum vereinbarer Parallelwelten geschildert, der Welt der Dorfgemeinschaften und der Welt der Städter, die irgendwie komplett getrennt voneinander zu existieren scheinen, was tatsächlich soweit geht, dass die städtische Justizbehörde keine Anstalten macht, sich in die ländliche „Rechtsprechung“ einzumischen. Auf dem Dorf werden Rechtsfragen noch vom Ältestenrat geregelt, die scheren sich nicht die Bohne darum, was die in der fernen Stadt entscheiden, die machen ihr eigenes Recht, machen ihre eigenen Beschlüsse, was nicht bedeutet, dass hier blindlings die alten Wertevorstellungen durchgesetzt werden. Hirut wird von den Ältesten nicht zum Tode verurteilt, lediglich aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen, was für den Vater allerdings so gut wie ein Todesurteil ist und ihm auf Dauer noch mehr Ärger einträgt, denn die Familie des Getöteten ist unzufrieden und wütend und wird wohl nicht eher Ruhe geben, bis ihre Vorstellung von Gerechtigkeit durchgesetzt wurde. Die Städte hingegen werden repräsentiert von der Anwältin und Frauenrechtlerin Ashenafi, eine überaus selbstbewusste, attraktive Erscheinung, an sich schon exotisch hier draußen im Busch, erst recht aber in Bezug auf ihr Anliegen und ihre Einstellung, die natürlich Lichtjahre entfernt ist von dem, was Männer und Frauen hier draußen leben und was sie schon immer prägt. Hiruts Eltern begreifen nicht wirklich, worum es ihr eigentlich geht, der Provinzsheriff natürlich auch nicht, der spöttelt genau wie der Staatsanwalt nur über die eifrige und kämpferische Dame, die sich partout nicht abwimmeln lässt, auch nicht von der geballten Arroganz der männlichen Uniformträger und Funktionäre, deren Selbstgefälligkeit und Herablassung davon zeugt, wie selbstverständlich sie davon ausgehen, dass mit einem Mädchen kurzer Prozess gemacht wird und wie absurd das Anliegen dieser Tussi aus der Stadt ist. Die ist aber nicht nur entschlossen und leidensfähig, sondern auch gar nicht dumm, aktiviert die Presse für ihren Zweck, setzt den trägen Männerapparat unter Druck und schreckt sogar nicht vor einer Klage gegen das Justizministerium zurück, das doch tatsächlich dem Urteilsspruch der Dorfältesten folgen will, weil man wohl keine Lust hat, sich in lokale Angelegenheiten einzumischen – immerhin geht’s ja nur um ein Mädchen. Und erst jetzt geraten die Herren in Bewegung und wollen Ashenafi und ihrer Organisation das Wasser abgraben, was aber gottlob nicht gelingt, weil sich ein verständiger Richter findet, der endlich mal gesunden Menschenverstand walten lässt und Hirut freispricht.

 

   Ein in seiner ruhigen, fast unscheinbaren, bescheidenen Art sehr eindrucksvoller Film mit klarer Haltung und Botschaft: Schluss mit den mittelalterlichen, archaischen Strukturen in den ländlichen Regionen, Schluss mit den andauernden Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen, Schluss mit dem selbstverständlichen Festhaltern an barbarischen Gebräuchen, die Frauen zu wehrlosen Opfern willkürlicher Gewalt macht. Welche Relevanz solche Forderungen in Äthiopien haben, können wir uns wahrscheinlich gar nicht vorstellen, weil wir ja davon ausgehen, dass im freien Westen für die Frauen alles bestens geregelt ist. Dass im 21. Jahrhundert solche Dinge überhaupt erst noch eingefordert werden müssen, sagt ja schon genug – immerhin darf im Abspann nicht ohne Stolz verkündet werden, dass neuerdings die Entführung von Frauen unter Strafe steht, was unter den dortigen Umständen vermutlich eine echt revolutionäre Errungenschaft ist. Ein Film wie dieser ist nicht nur deshalb ein sehr legitimes Mittel, uns daran zu erinnern, dass Freiheit und Selbstbestimmung längst nicht überall praktiziert werden. Er bewegt und rüttelt auf, ohne dafür großes Pathos mobilisieren zu müssen, was an sich schon für ihn spricht. In diesem Jahr schon der zweite starke Beitrag aus Afrika – vielleicht wird’s ja doch noch mal was mit einer relevanten Filmkultur auf diesem Kontinent, und wenn die Jolies dieser Welt ihren Namen dafür hergeben müssen, dann soll es halt so sein. (18.3.)