Il capitale umano (Die süße Gier) von Paolo Virzì. Italien/Frankreich 2014. Valeria Bruni-Tedeschi, Matilde Gioli, Fabrizio Bentivoglio, Fabrizio Gifuni, Guglielmo Pinelli, Giovanni Anzaldo, Valeria Golino, Luigi Lo Cascio
Der italienische Originaltitel sagt mehr über den Gehalt dieses Films aus: Wie berechnet man den Wert eines Menschen, welche Parameter machen seinen Preis aus? Ein Radfahrer wird angefahren, schwer verletzt, stirbt. Die Versicherungen feilschen, verhandeln, kalkulieren, um festzulegen, wie hoch das Schmerzensgeld ist, das der Familie ausgezahlt werden soll: Alter, Lebenserwartung, soziales Netz und emotionale Wertigkeit – macht zusammengenommen nicht mal dreihunderttausend Euro. Da kann ein jeder für sich mal ausrechen, was sie oder er wert ist. Im herkömmlichen Zusammenhang des Globalkapitalismus hat Humankapital eine etwas andere Bedeutung, die hier durchaus auch einfließt, wenn auch in stark abgewandelter Form. Es werden auch Menschen benutzt, verschoben, abgeschoben je nach Bedarf, in erster Linie geht es aber um Finanzgeschäfte, Investitionen, Spekulationen. Die haben die Familie Bernaschi stinkreich gemacht und den Bernaschi-Fond zu einem regelrechten Kultobjekt der Mailänder Haute Volée. Wer Anteile hat, der gehört dazu, der ist im engsten Kreis, der ist einer der Auserwählten. Manch einer begehrt Zutritt zu dem exklusiven Kreis, beispielsweise die schmierige Immobilienmakler Dino, der es mit viel List und Aufdringlichkeit tatsächlich schafft. Und vor allem Glück hat, dass seine Tochter Serena den Bernaschi-Buben datet. Er weiß nicht, dass die Liaison längst beendet ist und nur fürs gesellschaftliche Protokoll aufrechterhalten wird. Er ahnt auch nicht, wieviel Trostlosigkeit und Leere hinter der glamourösen Fassade herrschen. Das wiederum weiß Signora Bernaschi nur zu gut, sie pflegt eine ausgeprägte Depression, verbringt den Tag mit Shoppen, Repräsentieren, edlem Nichtstun, doch als sie ein vom Abriss bedrohtes Theatergebäude entdeckt, stürzt sie sich mit Eifer in dieses Projekt, war sie doch einst selbst Schauspielerin und hegt noch immer eine innige Liebe zur Bühne. Sie pumpt den Gatten erfolgreich um Geld an, mobilisiert einige prominente Leute aus dem öffentlichen und kulturellen Leben, beginnt tatsächlich eine Liaison mit einem Bühnenautor, doch kurz bevor die Sache richtig konkret wird, dreht Signore den Geldhahn wieder zu, denn sein Spekulationen sind vorübergehend schief gelaufen, ein akutes Liquiditätsproblem sorgt für schwitzige Achselhöhlen in der Finanzwelt. Das erfährt auch Dino, denn seine siebenhundert Mille sind plötzlich zum Teufel und das sprichwörtliche Wasser steht ihm bis zum Hals. Tja, und dann wird ein Radfahrer von einem Auto in den Graben geschleudert und stirbt, und verdächtigt wird der Bernaschi-Filius, der eine Niederlage beim Schülerpreis in Alkohol ersäuft und dessen Auto den Unfall ausgelöst hat.
Die Frage, wer nun genau den Wagen gefahren hat, ist gar nicht so wichtig. Interessant ist eher, wie man in solchen Kreisen damit umgeht. Die einen gehen die Sache pragmatisch an, rechnen sofort, wieviel das kostet und ob sich das möglicherweise auf den Ruf und damit die Geschäfte auswirken könnte. Dreimal darf man raten, von dem hier die Rede ist. Andere sind betroffen, im Grunde aber zu passiv und hilflos, um etwas erreichen zu können. Wieder andere mutieren augenblicklich zum greinenden Kleinkind und übernehmen für nichts mehr Verantwortung. Nur Serena bemüht sich vorübergehend, die Wahrheit ans Licht zu bringen, allerdings nur so lange, bis sie sie kennt, denn am Steuer saß ausgerechnet ihre neue Liebschaft Luca, und der hat schon genug Mist hinter sich. Luca fährt aber schließlich doch in den Bau, ans Messer geliefert von Papa Dino, der die entscheidende Information zur Entlastung des Bernaschi-Lümmels an die Frau Mama verhökert, um selbst wieder aus dem Schneider zu sein. Am Ende herrscht auf den sonnigen Hügeln über der Stadt wieder eitel Freude: Papas Spekulationen sind auf längere Sicht offenbar doch erfolgreich gewesen, Mama hat sich wieder brav in ihre Rolle gefügt, der Filius ist rehabilitiert, und die Versicherungen haben das Leben des toten Familienvaters in Euro aufgewogen.
Vier verschiedene Kapitel, drei unterschiedliche Sichtweisen, erst ist Dino dran, dann die Signora Bernaschi, dann Serena, und am Schluss ergreift der Autor das Wort, fügt die Perspektiven ein wenig zusammen, verschafft uns einen Überblick, führt die Erzählung bis zu ihrem bösen Ende. Mama und Papa Bernaschi stoßen auf den Untergang des Abendlandes an, sie haben doch richtig gewettet und mit der Staatspleite einen Haufen Geld verdient. Solcher Zynismus dürfte niemandem fremd sein, der in der Branche unterwegs ist, denn die lebt ja geradezu davon, uns dummen Normalos verschlägt’s aber schon ein wenig die Sprache. Naiv wie wir sind glauben wir vielleicht sogar noch an das Gute im Menschen, wider besseres Wissen sozusagen, dieses bissige Gesellschaftsporträt jedoch lässt trotz aller erlaubten Polemik keinen Zweifel daran, wer und was die Welt regiert. Nun tritt Paolo Virzì hier auch nicht gerade als zorniger Barrikadenstürmer auf, sondern eher als kühler, abgeklärter Chronist zwischen Spott, Ironie, einem leichten Anflug von Sarkasmus vielleicht, weitgehend aber wohl geprägt von der klaren Einsicht, dass die Welt genau so läuft, wie sie eben läuft, und du und ich das auch nicht ändern werden. Ein paar sehr fein geschliffene Personen ragen heraus, vor allem Dino, im Grunde ein erbärmlicher Parasit und höchst penetranter Zeitgenosse, der seinerseits aber auch nur vorgeführt wird von Signore Bernaschi, einem eiskalten Arschloch comme il faut, dem alles Menschliche inklusive familiärer Dinge schlicht egal ist, der nur einen einzigen schwachen Moment hat, als die Geschäfte kurzzeitig nicht so laufen wie geplant. Das Söhnchen wird strikt nach dem Leistungsprinzip beurteilt und entsprechend abgefertigt, als er „versagt“, sprich nicht den ersten Preis im Schulwettbewerb erringt und dann auch noch unter Verdacht gerät, einen Radfahrer totgefahren zu haben, was ihn nur insofern anpisst, als es seinem Ruf und damit dem Geschäft schaden könnte. Das Frauchen wird als solches gehalten, eingekleidet, mit Luxus abgefüllt und bei Bedarf benutzt, aber natürlich gehören zu solch einem Deal immer zwei, also muss auch das Frauchen betrachtet werden, das sich in diesem Leben einrichtet, gelegentlich eine vage Leere und Bedürftigkeit verspürt, letztlich weder den Mut noch die Energie besitzt, um ihrem Gefühl zu folgen und auch dafür zu kämpfen. Abhängigkeit ist ein großes Stichwort hier, weniger emotionale als vielmehr wirtschaftliche und soziale. Die Sucht, dazu gehören zu wollen, die Bereitschaft, fast jeden Preis dafür zu zahlen, die Angst, diesen Status, die Sicherheit, die Zugehörigkeit eines Tages einzubüßen. Tja, fast könnten sie einem leidtun, die Geldsäcke, oder?
Virzìs Wahl die Erzählstruktur betreffend ermöglicht es ihm, ein komplexeres, perspektivreicheres Bild der Ereignisse und der beteiligten Personen zu entwerfen, mal den einen, mal den anderen in den Vordergrund zu stellen, beiläufig Erzähltes an anderer Stelle ausführlicher zu erzählen, zu ergänzen, zu erläutern. Identifikationsfiguren wird man hier schwerlich finden, dennoch sind die Schauspieler so stark und überzeugend, das zumindest ich dem geschehen keineswegs unbeteiligt folgte, sondern den Film als durchgehend spannend empfunden habe. Es gibt eine Menge politischer und sozialkritischer Filme aus Italien, die zorniger, härter sind als dieser, dennoch sollte man ihn nicht unterschätzen, denn auf seine äußerlich eher konventionelle Art ist er in Bezug auf die Charaktere, ihr Milieu, ihr Moral schon ziemlich bös, und vielleicht ist gerade die etwas glatte Oberfläche ein schönes Mittel, um darunter liegende Abgründe besonders effektiv hervortreten zu lassen. (13.1.)