Freistatt von Marc Brummund. BRD, 2015. Louis Hofmann, Alexander Held, Stephan Grossmann, Max Riemelt, Enno Trebs, Langston Uibel, Anna Bullard-Werner, Katharina Lorenz, Uwe Bohm
Untertitel: Zwei Jahre in der Hölle. Oder: Diakonie hat viele Gesichter. Wusste ich ja schon, kenne den Laden nun seit dreißig Jahren, aber hier hat’s mir doch ein wenig die Sprache verschlagen. Als Bielefelder hätte man es wissen können, tja vielleicht, andererseits aber gehen unsere lieben von Bodelschwinghschen Anstalten auch nicht gerade sehr offensiv mit diesem äußerst unrühmlichen und schwierigen Kapitel ihrer Vergangenheit um. Sollten sie natürlich tun, wenn sie sich nicht immer wieder der Geschichtsverkleisterung verdächtig machen wollen. Auf irgendjemand anderen abschieben können sie die Verantwortung schlecht – Freistatt ist eine Bethelgründung (von 1899, um genau zu sein) im niedersächsischen Wietingsmoor nahe Diepholz, stand und steht noch immer ganz im Zeichen der Stiftung, die sich hier „Bethel im Norden“ nennt, und beherbergte seit jeher neben vielem anderen auch Erziehungsheime, unter anderem für besonders „schwierige Fälle“. Der Anspruch: Durch harte Arbeit und strenge Erziehung im christlichen Sinne die Gefallenen und Abgerutschten wieder auf den rechten Weg bringen. Seit ungefähr zehn Jahren nun kursieren mehrere Untersuchungen, die darlegen, welch bestürzende Realitäten sich oft genug hinter dem hehren Anspruch verbargen, oft bis in die 70er und 80er Jahre hinein (und ich hab immer gedacht, die Iren seien rückständig…). Der Film „Freistatt“ erzählt eine dieser Geschichten.
Wolfgang ist ein zorniger Junge. Er hasst den neuen Stiefvater in gleichem Maße, wie er die Mama anbetet, nur kann die ihn nicht vor Prügeln und Hass schützen. Wolfgang hat schon einiges mit Heimen zu tun gehabt, hat eine einschlägige Akte, weshalb der Stiefvater beim Jugendamt recht leichtes Spiel hat und nur auf die nächste Verfehlung warten muss. Im Sommer 1968 ist es dann soweit, ein Bulli fährt vor und bringt Wolfgang von Osnabrück raus aufs Land in eine Einrichtung, die sich Freistatt nennt und von der Diakonie betrieben wird. Der Leiter (ach ja – „Hausvater“ hieß das damals ja noch…) heißt Brockmann und begrüßt Wolfgang mit jovialen Worten und Gesten: Wir brauchen hier Hände, die zupacken können. Und: Wir werden uns schon gut verstehen. Nach kurzer Zeit aber hat Wolfgang am eigenen Leib erfahren müssen, dass er in eine Welt geraten ist, die nur aus Misshandlung, Zwang, Gewalt und Erniedrigung besteht. Die wenigen Mitarbeiter sind mental vollkommen überfordert und flüchten sich ihrerseits in Aggressionen, Unterdrückungsstrategien oder etwas raffiniertere Formen des Missbrauchs. Die Jungs müssen täglich raus ins Moor, schuften dort wie die Zwangsarbeiter, kriegen abends Wassersuppe, wenn überhaupt, schlafen allesamt in einem Saal. Sonntags geht’s in die Kirche, wo wenigstens pro forma dem Protokoll Genüge getan wird, ansonsten ist die Devise: Gehorchen oder leiden. Die Aufseher erledigen das bei Bedarf selbst, lieber noch überlassen sie das den Jungs selbst. Wenn einer was angestellt hat, müssen alle dafür bluten, und die sorgen dann sehr nachdrücklich dafür, dass das nicht nochmal passiert. Also auch Terror, Angst und Misstrauen in den eigenen Reihen. Wolfgang will sich auflehnen, will flüchten, will die anderen mitziehen, will sich nicht kleinkriegen lassen. Dafür muss er Furchtbares erleiden, neben all der Gewalt auch die Einsamkeit, denn da Hausvater Brockmann den Jungs jegliche Post vorenthält, glauben alle, ihre Eltern hätten sie vergessen oder verstoßen. Nach zwei Jahren dann, im Sommer 1970, darf Wolfgang endlich nach Hause zurückkehren, nachdem der Stiefvater unerwartet verstorben ist. Doch er kann nicht mehr zurück, er kann auch nicht mehr mit den Freunden von früher rumhängen, die Zeit in der Freistatt hat ihn zerstört. Er setzt sich in einen Zug und fährt los – seine Zukunft bleibt offen.
Ein durch und durch erschütternder Film, der an Härte und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, auch wenn der Mann, dessen Leben Vorbild für Wolfgangs Geschichte ist, versichert, die Realität sei noch viel schlimmer gewesen, so schlimm, dass man sie keinem Kinopublikum hätte zumuten können. Das glaube ich gern. Marc Brummund will anklagen, nicht fair sein, und das ist völlig in Ordnung. Mag sein, dass auch einige der Aufseher Opfer waren und wohl auch nicht alle so sadistisch und brutal, und es ist auch nicht so, dass sie hier alle über einen Kamm geschoren werden, doch natürlich ist dies ein Film über und für die Opfer, und das muss auch genauso sein. Die haben jahrzehntelang im Schatten gelebt, ihre Berichte wurden nicht gehört oder nicht geglaubt, man kann sich nur ungefähr ausmalen, welche verheerenden Schäden die Misshandlungen bei ihnen hinterlassen haben, und nun ist es umso wichtiger, dass dieses Thema endlich in den Medien aufgegriffen wird. Bethel selbst hat bei der Herstellung dieses Films unterstützt, es wurde an den Originalschauplätzen gedreht (was dem Film zusätzlich eine bedrückende Authentizität gibt), also darf man hoffen, dass auch hier eine offenere Aufarbeitung der schwarzen Flecken in der eigenen Historie begonnen hat, obwohl mir so ein bisschen der Optimismus fehlt, um an eine wirklich erschöpfende Aufklärung zu glauben. Der Film könnte dazu dienen, eine noch breitere Öffentlichkeit zu erreichen als Bücher oder Zeitschriftenartikel, schon von daher ist er absolut gerechtfertigt und wichtig, auch in seiner Machart. Die ist drastisch, hart, emotional, schont nichts und niemanden, und wer nicht mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch aus dem Kino kommt, hat wohl den Schuss nicht gehört.
Wir erleben ein System, das man letztlich nur als faschistoid bezeichnen kann. Schon der zynische Name „Freistatt“ setzt hässliche Assoziationen frei, und je tiefer die Erzählung in die Struktur der Einrichtung vordringt, desto gerechtfertigter werden diese Assoziationen. Die totale Repression jeglicher eigenständiger Willensäußerung und Persönlichkeit, die systematische Zerstörung des Individuums, die ständige Überwachung, das Ausspielen der „Häftlinge“ gegeneinander, der Austausch gegenseitiger „Gefälligkeiten“, die Zwangsarbeit, die Isolation, die seelische Indoktrination, alles da, was es braucht, um die Freistatt“ genau in eine Linie mit jenem Regime zu stellen, von dem sich die Diakonie doch eigentlich immer entschieden abgrenzen wollte. „Wir sind die Moorsoldaten“ statt „House of the rising sun“, Volkslieder statt Richie Havens und Woodstock, Essen satt für die Schließer, Ekelfraß für die Häftlinge, unfassbare Brutalität, rücksichtslose seelische und physische Grausamkeit. Und nach außen verkörpert Brockmann den gutmütigen, besonnenen Heimvater, der gelegentlich aufgebrachte Eltern beruhigt und ihnen versichert, dass es dem Sprössling gut geht und er nur noch ein wenig mehr Zeit brauche. Und wem würde man glauben, einem ehrbaren Diakon oder einem „schwierigen“ Bengel?
Da die Erzählung 1970 endet, als Wolfgang sich in einen Zug setzt und einfach losfährt, bleiben die Folgen für ihn außen vor, die gehörten sicherlich auch unbedingt erzählt, nur natürlich nicht im Rahmen dieses Films. Der widmet sich den Jahren zwischen 68 und 70, die Wolfgang in der Freistatt erlitten hat, und er tut es mit maximaler Intensität und eindrucksvoller Kompromisslosigkeit, er will ein klares Zeichen setzen und das tut er auch. Solche Filme sieht man hierzulande nicht häufig (nicht nur hierzulande…), und in diesem Falle bin ich umso glücklicher darüber, als es auch ein Thema gibt, dem der Zorn und die Leidenschaft angemessen sind. Drehbuch und Regie sind dicht und gradlinig, Judith Kaufmanns Bilder sind grandios und alptraumhaft zugleich, die Impressionen aus dem feindlichen Moor ebenso wie die quälenden Innenraumszenen aus der Anstalt, und die Schauspieler leisten sowieso sämtlich Bewundernswertes, allen voran Louis Hofmann, der sich mit letztem Einsatz in seiner Rolle verausgabt, die alles andere als eine einfache Rolle ist, denn er muss zwischendurch auch immer den Übergang schaffen vom Opfer zum Täter, zu dem ihn das System gemacht hat. Eigentlich ist das hier nix für einen sonnig-warmen Sommertag wie heute, eher was für den grimmigen Winter, aber großartiges Kino isses allemal und das nehm ich zu jeder Jahreszeit gern. (30.6.)