Inside Out (Alles steht Kopf) von Peter Docter. USA, 2015.
Neues aus der Disney-Pixar-Schmiede. Seit die Kids aus der Szene rausgewachsen sind, hab ich auch keinen Kontakt mehr dazu, diesmal aber hat mich ein äußerst verlockender und zweifellos extrem geschickt gestalteter Trailer angelockt – dieser Trailer nämlich richtet sich fast ausschließlich an Erwachsene und bewegt mit Sicherheit einige, verkehrte Verhältnisse zu schaffen und diesmal die Kleinen mitzuschleifen, statt wie sonst immer mitgeschleift zu werden. An den Kleinen wird die Essenz des Films wohl vorbeigehen, aber die große Kunst hier besteht darin, dass auch sie ihren Spaß haben, und ihre Ollen erst recht, denn für die ist hier noch eine Menge mehr drin.
Wir lernen das Mädchen Riley kennen, ihre behütete Vorzeigekindheit in einer harmonischen Vorzeigefamilie in ländlicher Vorzeigeumgebung irgendwo in Minnesota. Mit elf wird sie aus dieser heilen Welt unversehens herausgerissen, zieht mit Mom & Dad nach Sam Francisco, wegen Daddys Job natürlich. All ihre Tagträume von einem Traumhaus verfliegen angesichts der ernüchternden Wirklichkeit, und da der Umzugswagen mitsamt ihrer Möbel und Klamotten irgendwo nach Texas geleitet wurde, sind die ersten Tage in der neuen Umgebung alles andere als behaglich. Noch schlimmer aber ist ihr erster Schultag, und am allerschlimmsten ist ihr erster Versuch, in der lokalen Eishockeymannschaft zu landen. Riley ist verstört, vergeht vor Heimweh und steigt kurzentschlossen in einen Bus, der sie zurück nach Minnesota bringen soll. In letzter Sekunde steigt sie aber wieder aus und geht nach Hause zurück, wo die Familie zusammen neue Kräfte sammelt.
Keine Story, wegen der man einen Film machen würde. Was wir hier in erster Linie sehen und erleben, ist das, was sich in Rileys Innerem abspielt. Fünf maßgebliche Emotionen hocken um ein Schaltpult und versuchen, das Beste für Riley herauszuholen und das Schiff auf Kurs zu halten. Ganz früh im Leben taucht zunächst nur die Freude auf, zu der sich dann aber alsbald der Kummer als wichtigste Antagonist gesellt, später kommen Angst, Ekel und Wut hinzu, eine sprichwörtlich bunte, explosive Mischung. Allen sind Farben zugeordnet, sodass man stets erkennen kann, welche Emotion für eine bestimmte Situation oder Erinnerung prägend war. In den ersten Jahren dominiert die sonnig-gelb strahlende Freude, hat das Heft in der Hand, leitet Riley durch eine unbeschwerte, fröhliche Kinderzeit. Sie sorgt dafür, dass die Kernerinnerungen, die Rileys Persönlichkeit und Charakter prägen, ausschließlich positiv besetzt sind und dass sich auf diese Weise an die Schaltzentrale gesunde, funktionierende Inseln andocken. Familie, Freunde, Spaß, Eishockeys, Ehrlichkeit, sämtlich Bestandteile ihres Wesens, ihres Lebens. Die Erinnerungen jedes Tages werden mit dem Zubettgehen abgeräumt und kommen ins Archiv, wo sie für immer bleiben, es sei denn, sie werden länger nicht gebraucht und aus Platzgründen irgendwann ganz entsorgt. Ein ebenso komplexes wie fragiles System, das bedrohlich ins Wanken gerät, als Riley den Umzug nicht gut verkraftet und plötzlich der Kummer überall seine blauen Griffel im Spiel hat. Es kommt soweit, dass Freude und Kummer aus der Schaltzentrale geschleudert werden, um die Kernerinnerungen zu retten, und die verbliebenen drei sind nicht imstande, Riley einen stabilen Halt zu geben. Für Freude und Kummer beginnt eine turbulente Reise durch die verschiedenen Abteilungen des Gehirns, das Unterbewusstsein, das Langzeitgedächtnis, die Abteilung für Abstraktion und viele andere skurrile Orte. Ihnen schließt sich Rileys imaginärer Spielgefährte aus Kindertagen an, der sich schließlich sozusagen opfert und dafür sorgt, dass Freude wieder an Bord kommt, während er zurückbleibt und verblasst. Ein Abschied von der Kindheit deutet sich an, eine sich anbahnende Vermischung mehrerer, komplexerer Gefühle. Auch die Freude muss erkennen, dass ihr frenetischer Kampf um Riley vergeblich ist, wenn sie den Kummer nicht als gleichberechtigt neben duldet. Aus einigen Situationen kann nur der Kummer einen Ausweg finden, weil er traurige, negative Gefühle nicht einfach hinwegfegen will, sondern der Freude klarmachen kann, dass sie genauso dazugehören wie Überschwang und Lebenslust. Am Ende ist Riley nicht mehr, die sie vorher war. Die fünf bunten Gesellen kriegen ein neues, reichhaltigeres Schaltpult mit sehr viel mehr Knöpfen und Optionen, verwirrend und verlockend zugleich. Und ein ganz großer roter Alarmknopf ist auch schon mit dabei: Pubertät…
Nach einem etwas abrupten Schluss bietet sich hier also bereits ein prima Thema für eine Fortsetzung an – auf die ich mich ausnahmsweise mal freuen würde, denn die wüsten Grabenkämpfe der fünf Emotionen im Zeitalter der Pubertät, das wäre wahrlich ein Fest. Hier erleben wir, wie eine Elfjährige wohl oder übel die einfache, überschaubare Kindheitswelt Schritt für Schritt hinter sich lassen muss, wie die bewährten, vielfach eingewandten Mechanismen nicht mehr greifen, zu simpel sind, wie plötzlich andere, auch dunklere Gefühle ihren Raum fordern, und wie das Kontrollteam gut beraten ist, alles zuzulassen, weil so die Chance am größten ist, dass die Dinge in der Balance leiben. Wie dieser Film es schafft, hochkomplexe, faszinierende biologische und physikalische Zusammenhänge und Abläufe so zu visualisieren, dass man sie tatsächlich versteht und trotzdem noch Spaß hat und auch mal gerührt ist, das hat schon was Geniales. Vor uns tun sich quietschbunte Landschaften auf, die manchmal wie ein Kaugummiautomat aussehen, manchmal auch an Pepperland und die Blaumiesen erinnern, unvorhersehbar und überraschend an jeder Ecke. Zwischendurch mal eine furiose Montage in Sachen Kubismus, und (leider zu selten) auch mal ein Blick in andere Köpfe, beispielsweise den von Mama und Papa – hach, welch wunderbare Filme wären da denkbar! Voll Bewunderung denke ich an meine eigene Rübe und was sich dort drinnen tagtäglich abspielt. Was bewegt uns, was lenkt, schützt, treibt, bremst uns? Was bedeutet ein winziger Impuls links, ein Nachgeben rechts, und vor allem: Wie selten sind wir wirklich mal optimal ausbalanciert?
All dies wird hier überaus spielerisch und spaßorientiert aufbereitet, in sich aber so schlüssig und spannend, dass es für uns Große allemal eine Show ist. Ich selbst bin manchmal verblüfft, wieso zwischendurch nach über vierzig Jahren irgendein Detail aus meiner Kindheit wieder an die Oberfläche kommt, aus welchem verstaubten Regal auch immer, und wenn ich diesen Film sehe, frage ich mich, wieso diese Erinnerung noch nicht verklappt wurde? Vielleicht brauche ich sie noch. Und vielleicht animiert der Film uns taub und stumpf gewordenen Alten ja auch mal, wieder mit Spaß und Neugier in uns reinzuhorchen und zwischendurch auch der unermüdlich ackernden, nie verzagenden Freude mal einen Sieg zu gewähren. Verdient hätte sie es wirklich! (14.10.)