Leviafan (Leviathan) von Andrej Swjaginzew. Russland, 2014. Alexej Serebrjakow, Jelena Ljadowa, Sergej Pochojadew, Wladimir Wdowitschenkow, Roman Madjanow

   Auf dem Weg nach draußen kamen mir Fragen: Gibt’s eigentlich auch ein staatstragendes russisches Kino? Und wenn ja – wie sieht das aus und wieso kriegen wir das nie zu sehen? Und: Können die Russen eigentlich auch Wohlfühlfilme? Und wenn ja – wie sehen die aus und wieso kriegen wir die auch nie zu sehen? Ich meine, wir in der Provinz müssen ja schon auf Knien danken, dass wir „Leviathan“ zu sehen gekriegt haben, wahrscheinlich auch nur, weil er einige prominente Preise abgeräumt hat (gottseidank kann ich nur sagen), aber dies ist natürlich weder staatstragend noch hat es irgendeinen Wohlfühlfaktor. Im Gegenteil – gute hundertvierzig Minuten kriegen wir wieder die geballte russische Seele verabreicht, Schwermut, Melancholie, Wut, Tristesse, zahnputzbecherweise Wodka und dazu ein Gesellschaftsporträt, das den Machthabern kaum gefallen haben dürfte, weswegen die offizielle Kritik entsprechend ungnädig ausgefallen ist und vielerlei schikanöse Tricks ausprobiert wurden, um die Verbreitung des Machwerks zu sabotieren.  Kein Wunder, denn was wir hier vorgeführt bekommen, ist einmal mehr ein Land am Rande des Abgrunds, eine schroffe Abbruchlandschaft am Rande des nördlichen Meeres, aus dem gelegentlich mal ein Wal auftaucht, halb verfallene Holzsiedlungen, die es schwer machen, zwischen bewohnten und unbewohnten Behausungen zu unterscheiden, Kirchenruinen, in denen nun die Jugendlichen bechern, Schiffskadaver im Schlick, grässliche Industrieschlote mitten im Nirgendwo, triste Fischverarbeitungsfabriken, Verfall und Armut und Aussichtslosigkeit überall. In den Schreibstuben hängt nun an Stelle all seiner leidigen Vorfahren der Genosse Putin im Goldrahmen, doch hat man das sichere Gefühl, dass sich für die Menschen hier oben niemals viel verändert hat, egal welcher Despot nun gerade am Ruder war, auch wahrscheinlich nicht in den kurzen Momenten lockender Reformen, die vermutlich nie ihren Weg bis in diese Peripherie fanden.

   Nikolai lebt in seinem Haus auf einer Anhöhe mit schönem Blick auf Meer und Brücke, zusammen mit seinem Sohn Roman und seiner jungen zweiten Frau Lilja. Das Grundstück hat seit längerem schon die Begehrlichkeit des örtlichen Bürgermeisters geweckt, eines korrupten Machtmenschen, der gewohnt ist zu bekommen, was er haben will. Und da er gut vernetzt ist, kann er sich sämtlicher Instanzen bedienen, um sein Ziel zu erreichen. Mehrere Prozesse führt der erbitterte aber hartnäckige Nikolai, immer wieder prallt er am Bollwerk der „Justiz“ ab, immer wieder wird ihm eine lächerliche Abfindung angeboten, die ihn für den Verlust nicht annähernd entschädigen würde. Er schaltet seinen alten Armeefreund Dmitri ein, der nun Jurist in Moskau ist, und tatsächlich gelingt es dem, den Bürgermeister in die Enge zu treiben, indem er ihm Beweise für seine Machenschaften unter die Nase hält, doch letztlich hält die Macht stand – Dmitri wird ins Auto gepackt, draußen vor der Stadt verdroschen und auf diese Weise höflich überredet, doch wieder heim nach Moskau zu fahren, was er auch umgehend tut. Zuvor allerdings hat er noch eine Affäre mit Lilja angefangen und damit Nikolais Existenz auch noch im Privaten gefährdet. Nikolai erwischt die beiden, verprügelt sie, droht mit Mord, doch als Lilja zu ihm und Roman zurückkehrt, scheint sich die Lage zunächst zu beruhigen.  Dann aber verschwindet Lilja eines Abends, wird Tage später tot aufgefunden, und die Justiz verdreht die fakten so, dass Nikolai wie der Mörder aussieht und für fünfzehn Jahre ins Lager wandert. Roman wird von Liljas bester Freundin und ihrem Mann aufgenommen, und der Bürgermeister baut auf Nikolais Grund und Boden eine schöne neue Kirche, in der der lokale Pope fortan ausführlich und feierlich von der Wahrheit als Grundlage wahren Christentums predigt.

   Ein angemessen grimmiger Schlussakkord eines grimmigen Films, dessen faszinierende Bildersprache sehr an Swjaginzews Debüt „Die Rückkehr“ erinnert – dunkle, meditative Bilder aus dem kargen Norden, die feindselige Schönheit der Landschaft abwechselnd als Kontrast und auch Kommentar der sich darin abspielenden Handlung. Die kreist um einige wenige Menschen und eng umgrenztem Gebiet, im Dorf, in der Gegend drumherum, der Stadt, die vorwiegend durch das Gerichtsgebäude, das Rathaus und die Polizeistation repräsentiert wird. Die Autorität verschanzt sich in abweisenden Gemäuern, die Leute hausen in einfachen, windigen Holzhäusern, man arrangiert sich, hilft sich gegenseitig, wie das in solchen Gesellschaften immer so ist, und kommt irgendwie über die Runden – solange man sich eben nicht mit denen da oben anlegt. Nikolai tut es, will sich nicht so einfach geschlagen geben, kämpft um sein Eigentum und seinen Stolz, verliert am Ende beides, seine Familie und seine Freiheit. Ein Opfer der eiskalten Intrigen des Bürgermeisters, eines feisten, widerlichen Zeitgenossen, der sich jovial und volkstümlich gibt, in Wirklichkeit aber nur ein gieriger, berechnender Tyrann ist. Dmitri bringt ihn nur kurzzeitig in Bedrängnis, konfrontiert ihn mit seinen kriminellen Taten, bevor er brutal zurückschlägt, und auch dafür sorgt, dass Nikolai für immer von der Bildfläche verschwindet. Das ultimative Abbild des korrupten Machtmenschen, dem der normale Bürger hilflos ausgeliefert ist, seiner Willkür, seiner Gier, seiner Rücksichtslosigkeit, das ultimative Abbild vielleicht auch für das moderne Russland, so wie Kritiker es sehen und so wie die Repräsentanten des Staates es natürlich nicht hinnehmen wollen. Im Unterschied zu früheren Zeiten immerhin kann Swjaginzew es sich leisten, recht offen polemisch zu Werke zu gehen und den Bürgermeister als feiste, bösartige Küchenschabe zu zeigen und auch jede Chance zu nutzen, die Volksmeinung zur Obrigkeit zu protokollieren – am deutlichsten wird dies in jener Szene, da sich die mutwillige Geburtstagsgesellschaft in die Klippen aufmacht, jede Menge Fusel und Knarren im Gepäck, um auf schön gerahmte Bilder der alten Herrscher zu ballern, Stalin oder Breschnew oder auch Gorbatschow. Jelzin? Nee, zu mickrig im Ganzen. Putin? Muss noch ein bisschen länger in den Amtsstuben hängen, dann ist er auch fällig. Diese feuchtfröhliche Anarchie wird dann jäh gebremst, als Lilja und Dmitri in den Felsen verschwinden und Nikolai sie kurz darauf ertappt, woraufhin sich das Drama vorübergehend in den Privatbereich verlagert und auch dort sehr eindringlich und stark wirkt. Während Nikolai versucht zu kämpfen und auch wenn es gegen Windmühlen geht, zieht sich Lilja in sich zurück, wagt nicht wirklich den Ausbruch mit Dmitri, fügt sich letztlich in das freudlose Leben mit Nikolai, und man darf davon ausgehen, dass sie am Ende Selbstmord begeht.

 

   Inhaltlich und künstlerisch gesehen bildet der Film eine meisterliche Einheit. Das gemessene, streckenweise fast kontemplative Tempo erinnert an ältere russische Meister wie beispielsweise den Herrn Tarkowski, in anderer Hinsicht dagegen ist Swjaginzew sehr modern und aktuell, behält die klassischen Reliquien im Blick, weist ihnen aber den Platz zu, den sie heutzutage eben haben, entweder als verblassende Wandbilder in ausgehöhlten Ruinen oder als Symbole einer verlogenen, vielfach missbrauchten Macht, die ganz im Heineschen Sinne heimlich Wein trinkt und öffentlich Wasser predigt. Gelegentlich blitzt etwas wie bitterer Humor auf, manchmal auch Reste von Zärtlichkeit oder Freundschaft, doch Nikolais Kampf ist ebenso aussichtslos wie Liljas Versuch, vom Stiefsohn anerkannt zu werden oder in ihrem Alltag irgendeinen Grund zur Freude zu entdecken. Ganz großartiges russisches Kino, und ich kann wirklich nur hoffen, dass wenigstens ab und zu mal ein Film wie dieser den Zugriff der Zensur passiert oder durch ein internationale Auszeichnung ein wenig unantastbar wird – oder am besten beides. Filme aus Osteuropa sind für uns Wessis auch so wichtig, um unsere arg eingeschränkte Perspektive ein wenig zurechtzurücken, uns daran zu erinnern, dass dies auch Europa ist, auch wenn wir das nicht immer wahrhaben wollen. (7.4.)