Mediterranea von Jonas Carpignano. Italien/Frankreich/USA, 2015. Koudous Seihon, Alassane Sy, Adam Gnegne, Pio Amato, Annalisa Pagano, Vincenzina Siciliano, Mary Elizabeth Innocence, Zakaria Kbiri
Ayiva und Abas aus Burkina Faso wollen nach Europa. Zusammen mit vielen anderen werden sie durch Algerien nach Libyen geschleust, überfallen, ausgebraubt, schließlich auf ein wackliges Schlauchboot gesetzt und auf dem Mittelmeer ihrem Schicksal überlassen – gegen Barzahlung versteht sich. Sie werden von der italienischen Küstenwache vor dem Ertrinken gerettet, stranden in einer kleinen süditalienischen Gemeinde, wo schon andere Afrikaner in Notunterkünften hausen, und versuchen, einen Job zu kriegen und Geld nach Hause schicken zu können, wo der zurückgebliebene Familie in Armut lebt. Ayiva versucht mit allen Mitteln, sich zu integrieren, Abas bleibt stolz und sperrig, und als der lokale Mob die unerwünschten Fremden attackiert, wird Abas schwer verletzt, Ayiva weicht dem Kampf aus, hangelt sich weiter von Job zu Job, auch wenn das bedeutet, den gleichen Leuten Sekt servieren zu müssen, die vor kurzem noch seinen besten Freund verprügelt haben.
Der Film über unsere Zeit, genau über das Thema, das Dilemma, das Europa, oder zumindest einen Teil davon, aktuell zu zerreißen scheint. Eine Geschichte, die täglich hundertmal geschieht, die täglich in unseren Nachrichten auftaucht, die uns täglich neu erschüttert und der wir täglich von neuem hilflos gegenüberstehen, kaum imstande, etwas anderes als Ratlosigkeit und tief drin ein unangenehm schlechtes Gewissen zu empfinden. Ganz aus der Sicht der Betroffenen erzählt – und damit meine ich nicht die armen Europäer! – folgt die nüchterne Handkamera dem Weg der Menschen durch die Wüste, über das Meer, in das fremde Land, in dem sie auf denkbar unterschiedlichste Weise aufgenommen werden. Einige engagieren sich, helfen, kümmern sich, bieten Quartier, Nahrung, Unterstützung und Solidarität (dann sind vorzugsweise jene „Gutmenschen“, über die man sich gern an anderer Stelle lustig macht). Andere machen vor allem Geschäfte mit ihnen, sehen die neue Situation eher pragmatisch, passen sich schnell an, machen ihren Schnitt. Wieder andere sind zornig, haben Angst um die eigene Existenz und überhaupt vor den vielen Fremden und reagieren in Ermangelung anderer Bewältigungsmethoden mit Gewalt. Auch die Immigranten zeigen unterschiedliche Haltungen: Die einen verdrängen eher, versuchen sich anzupassen, andere können das Erlebte nicht so schnell hinter sich lassen, sind traumatisiert, zornig, verletzt. Sie wurden beraubt, misshandelt, wie Vieh übers Meer geschafft, ihre Notlage wurde rücksichtslos ausgenutzt, und in Europa werden sie nicht mit offenen Armen empfangen, das gelobte Land ist nirgendwo, niemand gibt ihnen das Gefühl, nur auf sie gewartet zu haben. Abas fällt in Schwermut, Apathie, kann sich mit den unwürdigen Lebensbedingungen nicht abfinden, sucht wie einige andere ein Ventil, und da kommt ihm die Gewalt ebenso recht, wie dem einheimischen Mob, der für Angst und Verunsicherung auch keine andere Ausdrucksform finden mag. Und so entsteht, in Italien wie auch anderswo, ganz schnell eine Konstellation, die allen bequeme Argumente liefert und konsequent verhindert, dass an den Ursachen, den Wurzeln der Katastrophe gearbeitet wird. Diese Wurzeln sind so tief und verzweigt, dass es unmöglich scheint, sie nachhaltig und wirkungsvoll auszureißen. Beide Seiten reagieren nur so, wie sie können: Die einen flüchten, die anderen wehren sich, verteidigen das, was sie für ihren rechtmäßig erworbenen Wohlstand, ihre verdiente Sicherheit halten. Und keine der beiden Seiten kann man dafür ans Kreuz nageln.
Das größte Verdienst dieses Films liegt wohl genau darin, dass er nicht verurteilt, nicht mal beurteilt, und gottseidank erst recht nicht vorgibt, irgendeine Patentlösung auf Lager zu haben. Er gibt sich weder irgendwie optimistisch noch sonderlich depressiv, vermeidet melodramatische oder pathetische Töne total, er widmet sich konzentriert und eindringlich einer humanitären Misere, die scheinbar ganz plötzlich über uns hereingebrochen ist, die uns scheinbar alle vollkommen unvorbereitet getroffen hat, und die im Grunde nichts anderes ist als die bittere Konsequenz einer Politik und Gesinnung, mit der zumindest wir Westmenschen über Jahrhunderte ganz gut gelebt haben (um es mal untertrieben auszudrücken). Was uns Angst macht, ist zum einen der nicht abreißende Menschenstrom, der da auf uns zurollt, fordernd und bedürftig, wie wir es wahrnehmen, und zum anderen schon das vage Gefühl, dass wir aufgrund unseres Wohlstandes aufgefordert sind, zu helfen, etwas von dem zurückzugeben, was wir uns vor vielen hundert Jahren in Afrika unrechtmäßig angeeignet haben, anders ausgedrückt die Befürchtung, dass diese Menschen zu uns kommen, um das zurückzufordern, was wir ihnen einst geraubt und mit Hilfe dessen wir unseren Wohlstandaufgebaut haben. All dies schwingt hier mit, ohne explizit thematisiert zu werden, denn die Immigranten verlesen keine flammenden Pamphlete, sie wollen nur einen Job, sie sind in diesem Fall nicht vor Terror, Folter und Diktatur geflohen, sondern „nur“ vor Armut. Das darf man heutzutage fast schon nicht mehr, „Armutsflüchtlinge“ sind ganz plötzlich Flüchtlingen zweiter Klasse geworden, nur dass viele unserer Vorfahren Europa vor hundertfünfzig Jahren oder so aus genau diesem Grunde gen Westen verlassen haben, hat man hierzulande gut und gern vergessen.
Jonas Carpignano hat mit Laien gedreht, was im Rahmen dieses Films eine folgerichtige und auch sonst gute Entscheidung war, denn wir sehen so keine Schauspieler, sondern reale Menschen, der Grundton des Films ist ein fast dokumentarischer, beschreibender. Eine aufgesetzte Dramaturgie ist ganz unnötig, denn die Ereignisse an sich sind dramatisch genug, bedürfen keiner Geschmacksverstärkung. Diese Tragödie, die sich wie gesagt tagtäglich vielfach wiederholt und dies wohl noch für Jahre tun wird (bis irgendwas passiert, man weiß bloß nicht was), ist eine ganz fundamentale, symptomatische Tragödie und zugleich Abbild und Produkt unserer Zeit, die im Zeichen des totalitären Kapitalismus steht, des Gewinnmachens um jeden Preis und dementsprechend der sich ständig zuspitzenden, dramatisch größer gewordenen Kluft zwischen Reich und Arm. Und trotzdem wären Ayiva und Abas schon mit einem Job voll zufrieden. (20.10.)