Señor Kaplan von Álvaro Brechner. Uruguay/BRD, 2014. Héctor Noguera, Néstor Guzzini, Rolf Becker, Nidia Telles, Nuria Fló, Gustavo Saffores, Hugo Piccinini, Leonor Svarcas

   Jakob Kaplan liegt auf dem Brett eines Sprungturms. Wie er dorthin gekommen ist, weiß er selbst nicht. Unten auf der Erde aufgeregte, besorgte ältere Menschen, unter anderem seine Frau. Sie weiß und er weiß, dass er nicht schwimmen kann. Springen wird er trotzdem. Er hat Bilanz gezogen: Er ist nun 76, was an sich noch nichts bedeutet, denn andere haben in seinem Alter auch noch was erreicht, Goethe, Churchill, Abraham, um nur einige zu nennen. Er ist also im besten Alter, muss sich aber dennoch fragen, was er unternommen hat, um eine Spur zu hinterlassen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er, der 1937 von seiner Familie aus Europa fortgeschickt wurde, um zu überleben, um die Familienlinie weiterzuführen, irgendwo, wo Juden nicht verfolgt werden. 60 Jahre später lebt er seit Jahrzehnten schon in Montevideo, hat zwei Söhne, ist Teil der jüdischen Gemeinde, ein einigermaßen wohlhabender, friedlicher, angesehener Rentner, auch wenn er hier und da ein wenig störrisch und eigensinnig ist. Und nun ist er fest entschlossen, vor seinem Tod noch irgendwas zu tun, und da kommt ihm die Nachricht von dem seit langem in Südamerika untergetauchten SS-Mann gerade recht, der sich nun angeblich in Uruguay oder Brasilien aufhalten soll. Und er denkt sofort an seine Enkelin, die ihm von dem komischen alten Deutschen erzählt, der draußen am Strand eine kleine Bar hat und den sie nur zum Spaß „Nazi“ nennen. Und da ihm die besorgten Kinder ob des nachlassenden Sehvermögens einen Chauffeur zur Verfügung stellen, der ein Ex-Polizist ist, macht er aus der Not eine Tugend und bindet den Herrn Wilson aktiv in die Ermittlungen ein. Sie heften sich an die Fersen des Deutschen, fest entschlossen, ihn zu entführen und nach Israel auszuliefern, so wie es einst mit Eichmann geschah.

   Schon die oben beschriebene erste Szene gibt den Takt vor für einen wunderlichen Film, der sehr geschickt und effektvoll die Tonarten wechselt. Mal sehen wir eine skurrile, liebevolle Komödie über einen alten Kauz, der wie jedermann nicht einsehen will, dass er nicht mehr so kann wie früher und der mit seinem Eigensinn sowohl seiner Familie als auch der jüdischen Community gehörig auf den Sack geht, mal sehen wir die eher traurige Geschichte des sympathischen, schluffigen Losers Wilson, der einst den Intrigen seines Schwagers zum Opfer fiel und nun um seine Ehre und vor allem seine Familie kämpft, und mal eine Kriminalgeschichte, die viel weiter reicht, als man hier sieht, denn Deutsche in Südamerika, das hat bekanntlich einen ganz eigenen Geschmack. Und zuletzt wird’s eine ausgewachsene Tragödie, wenn nämlich der Deutsche, nachdem er unsere beiden Nichtschwimmer aus dem Atlantik gezogen hat, seine Geschichte erzählt, die Geschichte des Kapos in Auschwitz, der fünfzig Jahre lang vergeblich versucht hat, seiner Vergangenheit und dem Fluch des Verräters zu entfliehen, und der nun nicht mehr weglaufen kann und will. Dazwischen gibt’s ein paar schön bissige Szenen aus dem verschiedenen sozialen Gruppen (die Juden einerseits, die Familien der Deutschen andererseits) und es gibt einen grandios fiesen Titelsong, indem auf Französisch süffisant über das komfortable und abgesicherte Leben der alten SS-Angehörigen in Uruguay berichtet wird. Es gehört schon einiges Geschick dazu, diese auch stimmungsmäßig äußerst unterschiedlichen Elemente in ein halbwegs einheitliches Ganzes zu fügen, und Álvaro Brechner hat dieses Geschick eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Der Grundton ist ruhig, der Humor kauzig, die Liebe zu den zotteligen Hauptfiguren deutlich spürbar, und gerade die Wechsel zwischen leiser Komik und ebenso leiser Tragik funktionieren perfekt. Brechner muss dazu keine dramaturgischen Klimmzüge bemühen, er muss an keiner Stelle dick auftragen, um dennoch stets unsere Aufmerksamkeit zu haben. Er ist den Menschen nahe, vor allem dem Señor Kaplan, der sich mehr und mehr in seinen Plan verbeißt, obwohl er von Beginn an nicht einen wirklich überzeugenden Ansatzpunkt hat, dass der alte Deutsche am Strand tatsächlich der gesuchte SS-Mann sein könnte. Sein wilder Vorsatz, noch irgendwas Sinnvolles, Aufsehenerregendes zu tun, womöglich dem israelischen Volk einen großen Dienst zu erweisen, entwickelt eine derartige Eigendynamik, dass alle Einwände und vernünftigen Argumente ungehört abprallen. Seine Frau kriegt keinen Kontakt mehr zu ihm, seine höchst unterschiedlichen Söhne bemühen sich vergeblich, ihm was „Gutes“ zu tun (ihrer Meinung nach Gutes wohlgemerkt!), und auch die Teenie-Enkelin guckt ihren Opa unter den unvermeidlichen Kopfhörern eher entgeistert an. Wilson seinerseits ist anfangs auch alles andere als begeistert, doch die Alternative sind für ihn die langen Nächte vor dem Flipper in seiner Stammkneipe oder Rumhängen in der Messiebude, die so geworden ist, seit die Frau mit ihren fünf Kindern ausgezogen ist. Er lässt sich von Jakob infizieren, um endlich mal wieder was zu tun zu haben, auch wenn er mit dem Thema verständlicherweise gar nichts am Hut hat. Der Deutsche schließlich, dessen Identität trotz unterschiedlichster Versionen nie so ganz ans Tageslicht kommt, hat zwischendurch einen überraschend bedrohlichen und aggressiven Auftritt, als er Kaplan mit dem Tode bedroht, falls er ihn noch länger verfolge, doch als er dann seine Tätowierung am Unterarm zeigt und seine Geschichte erzählt, entpuppt sich Kaplans wüste Theorie als tragischer Irrtum, ein Irrtum, der ihn selbst ein wenig resignieren lässt, und es sieht fast so aus, als würde er sich nun in sein Schicksal als alter, nicht mehr brauchbarer Mann fügen, während Wilson seinen Mut zusammennimmt und seine Frau auffordert, zu ihm zurück zu kommen.

 

   Das ist sehr schönes Kino aus Südamerika, nicht so sperrig und dröge wie häufig, sehr menschlich, sehr launig, in den Hauptrollen brillant gespielt und durchgehend wunderbar fotografiert. Ein mehr als willkommenes Lebenszeichen aus einem Kontinent, der noch so viel mehr zu erzählen hätte… (21.7.)