Selma von Ava DuVernay. USA, 2014. David Oyelowo, Tom Wilkinson, Carmen Ejogo, Andre Holland, Tim Roth, Tessa Thompson, Giovanni Ribisi,  Lorraine Toussaint, Stephan James, Martin Sheen  

   Für mein Gefühl müsste Martin Luther King im Vergleich zu Gandhi fast noch als der größere Held durchgehen, denn in einem Land, dessen gesamte Geschichte und Identität maßgeblich auf Gewalt gründet, für konsequenten Verzicht auf ebendiese Gewalt einzutreten, zeugt von einem wahrhaft visionären, einzigartigen Mut, der ihn für ein gutes Jahrzehnt zur unumstrittenen Gallionsfigur der Bürgerrechtsbewegung in den USA machte und genauso unweigerlich zu seiner Ermordung 1968 führte, denn wie gesagt, in God’s Own Country sind die meisten Propheten zu einem gewaltsamen Tod verurteilt. Dieser Film widmet sich aber nicht seinem Tod, sondern seinem Leben und Wirken, was an sich schon eine Geste ist. Er konzentriert sich auf die drei Protestmärsche von Selma, Alabama in Richtung Hauptstadt Montgomery im März 1965, von denen der erste von der Polizei zusammengeknüppelt, der zweite von Luther King selbst aus Vorsicht abgebrochen und erst der dritte zu Ende gebracht wurde, unter enormer öffentlicher Anteilnahme, publicityträchtiger Mitwirkung vieler Prominenter aus Kultur und Politik und vor allem auch der Mitwirkung zahlreicher Weißer. Vor dem Capitol in Montgomery hält Luther King dann eine seiner mitreißenden Predigten, und wenige Monate später verkündet Lyndon B. Johnson das Inkrafttreten des Voting Rights Act, das vorübergehende Ende eines jahrelangen Ringens um gleiches Wahlrecht für Schwarze und andere Minderheiten in den USA. Vor allem in den Südstaaten regierte bis in die 60er jener brutale, dumpfe, völlig unverhohlene Rassismus, der die Gesellschaft dort unten schon immer geprägt hatte, und folglich mussten sich die Aktionen der SCLC auf Gegenden wie Alabama konzentrieren, wo Schwarze mit gezielten Schikanen daran gehindert wurden, sich auf Wahllisten eintragen lassen zu können. Diese Schikanen sind integraler Bestandteil des Systems, verkörpert von Leuten wie Gouverneur George Wallace oder dem stiernackigen Ortssheriff Jim Clark, vermutlich Mitglied des lokalen KKK-Ortsvereins, und ausgeübt unter Anwendung rücksichtsloser physischer und struktureller Gewalt, und wer immer den Schneid besaß, sich dieser Gewalt entgegen zu stellen, musste komplett verrückt oder tatsächlich ein Held sein.

   Der Film porträtiert MLK in den wenigen Wochen im März 1965, zeigt ihn als Privatmenschen im Kreis von Ehefrau und Familie, zeigt ihn als öffentlichen Menschen im Dialog mit den Seinen oder den Aktivisten der Studentengruppen wie SNCC, die seine pazifistische Haltung sehr kritisch sehen und lieber eine härtere Gangart einlegen wollen, zeigt ihn als Diplomaten in zähen Auseinandersetzungen und Verhandlungen mit LBJ, der auf Zeitgewinn setzt, King und seine Anliegen vertrösten möchte. King erscheint mal als wortmächtiger Demagoge, mal als eindringlicher, unerbittlicher Dialogpartner und auch als etwas unbeholfener Ehemann und Familienvater, der zwischenzeitlich Stress mit der Gattin bekommt, die allmählich zermürbt wird von ewigen Schmähanrufen und Drohungen und ihn mit der Frage konfrontiert, ob die Sache es denn wert ist, das Leben der Familie aufs Spiel zu setzen. King ist alles andere als der großspurige Macher, er ist ein Zweifler, ein Grübler, konzentrierter Zuhörer und flammender Redner, der seinen Kurs an sich zwar nie in Frage zu stellen scheint, der dennoch sehr wohl registriert, welche Risiken er in Kauf nimmt und welchen Preis seine Mitstreiter teilweise bezahlen müssen. Nur mit Mühe und mit Hilfe einiger treuer und überzeugender Weggefährten gelingt es ihm, ein halbwegs einheitliches Aktionsbündnis zu formen und auch diejenigen zu integrieren, die am liebsten „Auge um Auge“ spielen würden, so wie es in jener Bibel steht, aus der King ja so gern selbst zitiert. Diese Reden sind auch heute noch von unerhörter Wirkungskraft, eine eindrucksvolle Mischung aus salbungsvoller christlicher Rhetorik und klarer politischer Aussage, bestechend formuliert, leidenschaftlich dargeboten und zwar zu jedem sich bietenden Anlass, sei es in Oslo bei der Verleihung des Friedensnobelpreises oder in Alabama im Angesicht knüpppelschwingender, mordlustiger Rednecks. In diesen Reden allein scheint der ganze Mann zu stecken, seine Überzeugung, seine Unerschrockenheit, sein tiefer Glaube an die Sache, seine Wut über die nach wie vor skandalösen Zustände in vielen Teilen der USA, seine absolute Entschlossenheit, die Zuhörer zu mobilisieren, aufzurütteln, auf die Straße zu bringen, um mit seinen Mitteln, mit den Mitteln der gewaltlosen Demonstration eine Veränderung zu erzwingen. Es ist daher sehr wichtig, dass dem Redner MLK im Film ein größerer Raum gegeben wird, und es ist schön zu erleben, dass diese Reden und die dahinter stehende Person auch fünfzig Jahre später noch mitreißend und bewegend wirken. Was zum Teil sicherlich ein Verdienst von David Oyelowo ist, der seine Rolle mit enormer Inbrunst und sichtlicher Hingabe spielt und der seine Identifikation mit dem Mann und seinen Zielen jederzeit spürbar werden lässt. Es ist immer heikel, solch prominente und vor allem hochverehrte Persönlichkeiten im Film darzustellen (siehe auch Ben Kingsleys Gandhi), und es ist umso erfreulicher, wenn dies mit so viel Würde und ungekünstelter Emotion geschieht wie hier. Leider ist der Mann bei der diesjährigen AA-Verleihung nicht mal nominiert worden, weshalb nicht, bleibt für mich schleierhaft.

   Ansonsten ist dies natürlich ein Film mit der richtigen Aussage, ein klarer Appell für Toleranz, Gleichberechtigung und gegen Rassismus, Gewalt und Unterdrückung, ein Film, der sich durch eine sehr ruhige, intensive Erzählweise auszeichnet und diese auch dann noch beibehält, als die Ereignisse selbst ins Dramatische kippen, ein Film, der besonders stark im Zwischenmenschlichen ist und dem es großartig gelingt, die ganz verschiedenen Motive, Interessen, Zwänge, Ängste und Emotionen darzustellen und gegeneinander abzuwägen. Ein Film, der MLK nicht heroisiert, und der auch noch nett zu LBJ ist, der ja immer noch als einer der unterschätzten US-Präsidenten im Schatten JFKs gilt. Ein Film, der die repressive, drückende Atmosphäre der 60er im Süden eindrucksvoll und präzise skizziert, der keine großen Effekte benötigt, um durchgehend sehr spannend und eindringlich zu sein. Leider auch ein Film, der für meinen Geschmack im historischen Teil ein wenig zu knapp ist, der ruhig ein paar mehr Hintergründe und Informationen verarbeiten könnte, ohne gleich in den Verdacht zu geraten, ein Dokumentarstück sein zu wollen. Natürlich ist dies in erster Linie eine dramatisierende Darstellung grundsätzlich realer Personen und Ereignisse, aber ich hab’s trotzdem ganz gern, wenn das eine oder andere Detail hinzukommt, vor allem, wenn es wie in diesem Falle um Dinge geht, die man hierzulande nicht so genau mitgekriegt hat, etwa Luther Kings Verhältnis zu Malcolm X oder zu agitierenden Studentengruppen.

 

   Aber gut, es bleibt ein ausdrucksstarker, engagierter, politisch expliziter Film mit einer klaren Haltung, als solches bereits nach wie vor eine Randerscheinung im jährlichen Hollywoodoutput und allein deswegen höchst respektabel und wichtig. Dass es dabei Konzessionen an den sogenannten Publikumsgeschmack geben muss, ist in diesem Rahmen wohl unvermeidlich, und ich für meinen Teil kann hier auch gut damit leben. (23.2.)