Futatsume no mado (Still the water) von Naomi Kawase. Japan/Frankreich, 2014. Nijiro Murakami, Jun Yoshinaga, Tetta Sugimoto, Miyuki Matsuda, Makiko Watanabe, Jun Murakami

   Ein Film, auf den man sich einlassen muss -  ganz oder gar nicht, dazwischen ist eigentlich nichts denkbar. Gar nicht bedeutet, man bleibt unberührt, draußen vor, empfindet wenig mehr als Langeweile, stört sich womöglich an den bedeutungsschweren wenigen Worten und Sätzen, die gesagt werden, und denkt an all die vielen europäischen Kunstfilme, die man schon in seinem Kinoleben erlitten hat. Und dann das Ganze auch noch auf Japanisch…! 

   Zu dieser Kategorie gehöre ich nicht. Für mich repräsentiert „Still the water“ die Essenz dessen, was Kino vermag (eine Möglichkeit davon, meine ich): Eine Meditation in Bild, Ton, Farbe, Lauten, Musik und Emotionen. Eine Reflexion über die Dinge des Lebens, und zwar die ganz essentiellen Dinge (jawohl, auch im Sinne des europäischen Kunstkinos), und eine Fortführung von Naomi Kawases eigenen Themen, so wie ich sie in dem einzigen anderen Film erlebt habe, den ich von ihr kenne, dem wunderbaren „Der Wald der Trauer“ von 2007. Das Leben, der Tod, die Trauer, die Liebe. In diesem Film hier entscheidend bereichert um das Thema Erwachsenwerden, suchen und entdecken, und natürlich forschen, vor allem im Bereich der Erotik.

   Zwei Jugendliche stehen im Mittelpunkt: Kyôko lebt mit ihren Eltern auf der paradiesischen Insel am Meer. Der Vater betreibt ein Restaurant, die Mutter ist Schamanin und ist todkrank, wird bald sterben. Das bildschöne Mädchen taucht gern mit ihren Kleidern, ist ein sehr freier, eigenständiger, neugieriger Geist, neugierig unter anderem auch auf Kaito aus ihrer Klasse. Der ist schüchtern, introvertiert, unzugänglich, freundet sich aber doch mit ihr an. Er lebt nur mit seiner Mutter zusammen, ist auch nicht auf der Insel zuhause, hat seinen Vater noch in Tokio, wo er ihn auch einmal besucht. Kaito ist wütend auf seine Mutter, die seiner Wahrnehmung nach sehr viele Liebhaber hat, und als er eines Tages einen von ihnen tot im Meer findet, gerät seine Fantasie ziemlich aus den Fugen. Er kann mit Kyôkos deutlichen Annäherungsversuchen zunächst wenig anfangen, ist seinerseits aber auch nicht abgeneigt, nur nicht so mutig und direkt wie sie. Kyôkos Vater stellt seiner sterbenden Frau das Bett direkt mit Blick auf ihren Lieblingsbaum, und dort stirbt sie dann in einer langen Zeremonie, in der sie sich von jedem einzelnen aus der Familie verabschieden kann, während um sie herum gesungen und getanzt wird. Kaito macht seiner Mutter eine wilde Szene, ohne letztlich klären zu können, was ihn quält. Kyôko sagt Kaito, dass sie mit ihm schlafen möchte. Er läuft zunächst erschrocken davon, aber dann tun sie‘s doch und schwimmen am Schluss nackt im Meer.

   Zwischen Kontemplation, zarter Poesie, Familiendrama, Trauer und auch Humor entwickelt Naomi Kawase ihr Porträt von Land und Leuten, bezieht die schöne, sehr urtümliche Küstenlandschaft stark mit ein in ihre Geschichte und schafft einen denkwürdigen Kontrast zu den Tokioszenen, die uns fast überfordern durch ihre urbane Dynamik. Nach soviel Wind und Wasser und Weite und Ruhe mochte ich mich dem Lärm und den Lichtern und der Hektik gar nicht richtig überlassen und war froh, als Kaito wieder zurück auf die Insel flog und alles wieder in den ruhigen, bedächtigen Rhythmus verfiel. Kawase ist den Menschen nahe, erkundet sie aber nicht zu sehr, lässt ihnen Raum, fremd und selbstbestimmt zu bleiben, was vor allem für die beiden Jugendlichen gilt, die in vielem die gleichen Probleme haben wie Jugendliche überall, die aber dennoch bemerkenswert starke, originelle Charaktere sind und vor allem auch extrem bemerkenswert gespielt werden. Sie wirkt erwachsener, mutiger, offener, er ist ein wenig verstockt und mürrisch, arbeitet sich sehr an seiner Mutter und ihrem Leben fernab ihres Ehemannes ab, er kann die Lebensform seiner Eltern, die von den beiden offenbar recht frei gewählt wurde überhaupt nicht verstehen, den Tattookünstler in der Hauptstadt ebenso wenig wie die viel arbeitende und eher unzugängliche Mutter auf der Insel. Kyôko wächst in einer scheinbar sehr intakten, harmonischen Familie auf, die durch die Krankheit der Mutter erschüttert, ganz sicher aber nicht zerstört wird. Ihre gemeinsamen Szenen haben jenen liebevollen, zärtlichen Humor, den Kaito im Umgang mit seinen Eltern niemals erlebt. Sie hat genau den Rückhalt, der ihm fehlt, und in ihrem Zusammensein versuchen sie, diese Kluft zu überwinden, wobei sie deutlich mehr Schritte auf ihn zu macht als anders herum. Sie hat sich mit ihrer aufkeimenden Sexualität auseinanderzusetzen, aber eben auch mit dem Sterben ihrer Mutter, zwei Dinge, die sich denkbar schlecht miteinander vertragen und ihr viel abfordern. Gespräche mit einem alten Fischerfangen einige ihrer Gedanken zum Tod auf, auch als sie nicht akzeptieren will, dass ihre Mutter bald nicht mehr da sein wird und sich nicht damit trösten will, dass die Seele, die Gedanken der Mutter weiterhin der Luft sein werden.

 

   Kawase stilisiert die Schönheit ihrer Tableaus durchaus, ist sichtlich auf eine stark poetische Bildsprache aus, auch auf eine sinnliche, und beides ist ihr grandios gelungen. Alle Elemente sind vertreten, das Meer, der Wind, die Jahreszeiten, auch die Gewalten der Natur. Die Menschen hier leben noch damit, wissen um die kommenden Taifune, haben ein vollkommen anderes Verhältnis zur Spiritualität und ihren Traditionen als die Städter, die wir kennenlernen. Kawase kommt dabei ohne jeden Ethnokitsch aus, zeigt die Inselbewohner einfach und mit diskreter Zuneigung. Wer dazu bereit ist, taucht für zwei Stunden in eine Gedankenwelt ein, die zugleich fern und doch universal ist, denn vieles von dem, was hier gefühlt, gedacht, gesagt wird, hat überall sonst auch Gültigkeit, keineswegs nur in Japan. In seiner Optik ist der Film durch und durch japanisch (glücklicherweise, kann ich nur sagen), in seinem inhaltlichen Gehalt wird er in Europa ebenso verstanden. Ein Meisterwerk der Schönheit und Intensität, zwei Stunden zum Genießen! (12.8.)