The program von Stephen Frears. England/Frankreich, 2015. Ben Foster, Lee Pace, Jesse Plemons, Chris O’Dowd, Guillaume Canet, Denis Ménochet

   Warum sind wir so sauer auf Typen wie Lance Armstrong? Weil sie beim Sport bescheißen? Wohl kaum, das tut fast jeder, das regt niemanden wirklich auf. Was mich, gerade im Zusammenhang mit dem Radsport, aufgeregt oder vielleicht doch eher ernüchtert hat, ist die restlose Entmystifizierung eines Sports, dem bislang jedermanns Bewunderung sicher war, auch solcher wie mir, die sich nicht wirklich dafür interessieren. Doch gerade die Tour de France war immer Sinnbild irrwitziger, faszinierender, fast übermenschlicher Anstrengung und in jedem Fall außerordentlicher sportlicher Leistung, die man einfach anerkennen musste. Dann kam das Doping und der Zauber war vorbei, die Helden sind gefallen, der  Mythos ist entkleidet und dahinter steckt der ewig gleiche dreckige Zirkus aus Geld und Gier. Das haben vor allem die nicht verdient, die weiterhin fair und ohne Einnahme leistungsfördernder Substanzen zu Werke gehen, die tatsächlich noch so etwas wie eine sportliche Ethik besitzen. Die soll es ja noch geben.

   Es geht ja auch nicht nur um Armstrong, es geht um das große Ganze, für das Armstrong nur ein Symptom ist. Es geht um ein System, ein Programm, und da ist der Titel des Films durchaus perfekt gewählt und weist auch in die richtige Richtung. Natürlich ist Armstrong, der siebenmalige Gewinner, der spektakulärste und deshalb auch bitterste Fall von Betrug, doch andere haben gleichfalls betrogen und betrügen noch immer. Im Mittelpunkt steht daher zusammen mit dem prominenten Protagonisten ein Programm, ausgeheckt von einem ehrgeizigen, rücksichtslosen Arzt, angenommen und durchgeführt von Sportlern zwischen persönlichem Ehrgeiz und Druck von außen. Bei der Tour ist es ja auch so: Es zählt nur der Sieger, alle anderen sind bald vergessen.

   Frears tut meiner Meinung nach sehr gut daran, den Fokus seines Films von Anfang komplett einzuengen auf Armstrong den Rennfahrer, den Dopingschlucker. Der erfolgreiche Kampf gegen den Hodenkrebs wird natürlich kurz thematisiert, das Privatleben kriegt nicht mehr als ein minimales Schlaglicht ab, was nur konsequent ist, denn im Mittelpunkt steht der besessen ehrgeizige, geltungs- und erfolgssüchtige Sportler, der selbst Kontakt zu dem umstrittenen und berüchtigten Dr. Ferrari aufnimmt und sich damit aktiv in dessen Programm integriert, im vollen Bewusstsein, dass mit illegalen Substanzen umgegangen wird. Der Sog des Erfolgs, das berauschende Teamerlebnis, das überwältigende internationale Echo auf den Mann, der den Krebs besiegt und danach die Tour in Serie gewinnt. Auf den Fersen hat er fast von Beginn an den Journalisten David Walsh, auf dessen Bericht das Filmdrehbuch größtenteils basiert, gegen sich hat er später viele Kollegen, die sich für einen sauberen Sport einsetzen, oder solche wie Floyd Landis, die sich zunächst überreden lassen, sich dann aber distanzieren und deutlich Partei ergreifen gegen die Betrüger. Armstrong tut, was alle tun, er dementiert, genau wie Ulrich und andere, er schwört, er habe nie betrogen, erst als die Beweislast erdrückend wird und seine Suspendierung nicht mehr aufzuhalten ist, entschließt er sich zur Beichte, und wo legt er sie ab – klar, bei Oprah Winfrey mit der größtmöglichen Publicity.

   „The Program“ zeigt den erfahrenen Erzähler und kritischen Analytiker Stephen Frears in Bestform. Der Film ist brillant strukturiert, äußerst effizient erzählt, fast kühl und stets aus sicherer Distanz, weder wertend noch polemisch, die Innenansicht eines Systems, das Erfolg um jeden Preis und mit allen Mitteln postuliert, ein System, das eine immense Grauzone produziert, in deren Randgebiete sich sehr viele Sportler bewegen, manchmal vielleicht sogar tatsächlich ohne ihr Wissen. Das gilt aber keineswegs für Armstrong und das unterscheidet ihn grundlegend und ein für allemal von einer tragischen Figur. Er wusste, was er tat und er wusste auch um die möglichen Folgen. Er ist kein Opfer eines manipulativen Dämons im Ärztegewand oder gar eines hinterlistigen Drogenmischers, wenn überhaupt, ist er Opfer seiner eigenen Erfolgsgier und sonst nichts. So erschütternd einfach ist das, und wie man hier sieht, kann man durchaus viele Jahre in Saus und Braus damit leben, ganz ohne dunkle Wolken am Horizont, zumal sich in Armstrong offenkundig auch keinerlei Gewissensbisse regten. Erst als die Jagd dann losgeht, stilisiert er sich plötzlich zum Gehetzten, zum unrechtmäßig Angeprangerten, doch nun ist es zu spät zum, umkehren. Frears hat daraus keine psychologische Tiefenbohrung gemacht, er interessiert sich wie gesagt eher für das System im Ganzen. Wobei sich der Fall Armstrong eben ganz besonders gut eignet, um die Wirkungsmechanismen des Betrugs im großen Stil zu veranschaulichen. Die konspirativen Aktionen, der feste Zusammenhalt im Team, der aber auch bedeutet, dass sich niemand entziehen kann, irgendwann dann der ganz selbstverständliche Umgang mit Pillen und Infusionen, die längst zum Alltag gehören. Der Sportler ist eine Leistungsmaschine, deren natürliche Grenzen unseren „wissenschaftlichen“ Ehrgeiz schon immer angespornt haben. Immer mehr, immer neue Experimente auf der Suche nach neuen Optimierungsmöglichkeiten. Was einst das rein sportliche Streben nach schneller-höher-weiter war ist zu einem total pervertierten Milliardengeschäft degeneriert, im Ganzen erbärmlich und abstoßend, aber durchaus mit der einen oder anderen skurrilen Note. Das heitere Versteckspiel mit Urinproben zum Beispiel kennt man ja schon aus vielen anderen Sportarten, noch nie aber wurde es so eindrücklich in einem Kinofilm gezeigt, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Frears argumentiert dabei weder besonders ironisch noch besonders zornig – beides ist nicht notwendig, denn das, was er zeigt, spricht weitgehend für sich.

 

   Mein ewiger Mitstreiter betonte nach dem Film, er halte die Leistungen der Tour-de-France-Piloten auch weiterhin für außerordentlich. Im Prinzip sind sie das wohl auch, ich persönlich aber könnte nie mehr hinsehen ohne ein komisches Gefühl dabei. Und das will ich einfach nicht haben. (13.10.)