The Voices von Marjane Satrapi. USA/BRD, 2014. Ryan Reynolds, Gemma Arterton, Anna Kendrick, Jacki Weaver, Sam Spruell, Ella Smith
Früher oder später musste es ja so kommen: Es musste jemand daherkommen, der Norman Bates übertrumpft, der noch neurotischer, noch durchgeknallter, noch gefährlicher ist. Willkommen im 21. Jahrhundert! Die „Experten“ von der katholischen Filmbewertungsstelle äußerten sich leise betroffen und besorgt über den offensichtlichen Mangel an Hoffnung und Perspektiven Marjane Satrapis tintenschwarzen Werk, doch sie vergessen: Auch Norman Bates wurde nicht wirklich geheilt, auch er war am Schluss mit sich und seinen Dämonen allein. Da geht es Jerry ungleich besser, er stimmt einen flotten Happy-Song an und wird frohgemut begleitet vom Herrn Jesus höchstselbst und seinen drei weiblichen Opfern. So zum Beispiel könnte es im Himmel aussehen.
Himmel und Hölle liegen in diesem speziellen Universum hier sehr dicht beieinander, sozusagen einen Pillenschluck voneinander getrennt. Was hat es damit auf sich? Der kleine Jerry verbündete sich einst mit seiner psychotischen deutschen Mama gegen den gewalttätigen Papa, hörte ähnliche Stimmen wie sie und bewahrte sie schließlich von einem weiteren Aufenthalt in der geschlossenen Anstalt, indem er sie kurzerhand tötete. Was nun wiederum ihm einen Aufenthalt in der Psychiatrie einbrachte, den er nur unter strengsten Auflagen beenden kann, und nun steht er unter ständiger Kontrolle einer Seelenklempnerin und wird angehalten, seine Pillen brav zu schlucken. Und genau da liegt der Haken, denn mit Pillen ist die Welt so fürchterlich trist und grau und real, ohne Pillen hingegen strahlt sie sauber und rein in allen Persilfarben, einen knallbonbonbuntes Wolkenkuckucksheim, in dem sich Jerry pudelwohl fühlt. Hinzu kommt noch, dass seine beiden Haustiere, der brave Hund Bosco und die giftige Katze Mr. Whiskers mit ihm sprechen, wenn er die Pillen weglässt – also lässt er sie weg und es geht ihm prächtig. Der Arbeitsplatz erscheint in schweinchenrosa, der Chef ist supernett zu ihm, die Girls lächeln ihn vielversprechend an, und all das Getratsche hinter seinem Rücken juckt ihn nicht, weil er es gar nicht hört. Er flirtet mit der feschen Fiona, die nach einigem Hin und Her endlich anbeißt, doch leider wird die sich anbahnende Romanze jäh durch einen nächtlichen Autounfall und einige nachfolgende unglücksselige Missgeschicke verhindert. Jerrys Improvisationstalent ist gefragt, er verteilt Fiones Überreste auf sehr viele Tupperboxen und parkt den Kopf im Kühlschrank, wo er ihn fortan mit Tipps und Forderungen bedenkt. Über die Frage, wie es nun weitergehen soll, sind sich Jerry, Bosco und Mr. Whiskers durchaus uneinig, doch der Lauf der Ereignisse lenkt Jerrys Schicksal klar in Richtung Serienkiller, und bald wird’s in seinem Kühlschrank eng…
Na klar, man muss sowas mögen, und empfindsame oder ethisch delikate Gemüter werden möglicherweise grob vergrätzt, aber ich hatte einen Heidenspaß dabei! Satrapi setzt sich total souverän über alle Zimperlichkeiten hinweg und fabriziert eine im Kern köstlich makabre Psychohorrorsatire mit zahlreichen Anspielungen und Zitaten aus dem einschlägigen Kanon. Jerry ist der ultimative Nerd, der liebenswerte, tollpatschige, ewig zum Scheitern verurteilte Außenseiter, der dessenungeachtet stets und ständig seinen ungebrochenen Willen zeigt, es dennoch wieder und wieder zu versuchen. Vielleicht fällt ja doch mal ein nettes Mädchen für ihm ab, oder er wird wenigstens mal im Kollegium ehrlich anerkannt und beliebt. Dann könnte er sich unter Umständen auch mit den Dämonen seiner Vergangenheit ein wenig offensiver auseinandersetzen. So bleibt vorerst nur die gnadenlose Verdrängung, und dabei helfen ihm auf sehr unterschiedliche Weise seine beiden tierischen Ratgeber daheim. Der liebe brave Bosco, der mit dem amerikanischen Akzent, macht sich für Goodwill, Nachgiebigkeit und Friedlichkeit stark. Der genüsslich intrigante und gemeine Mr. Whiskers, der mit dem schottischen Akzent, appelliert an die niederen Instinkte und daran, woran ein Mann so richtig Spaß hat: Sex und Töten. Man ahnt schon, wer die Oberhand behält, auch wenn Jerry zwischendurch arg ins Schleudern kommt, weil er die Fiona und auch die Lisa nach ihr wirklich nett findet und weil er immer wieder Versuche startet, die Pillen doch mal zu probieren. Das Resultat allerdings ist jedesmal so ernüchternd und deprimierend, dass er die Idee schnell wieder über Bord wirft.
Satrapi wechselt die Tonart regelmäßig, beschleunigt den Slapstickfaktor zwischendurch rasant, bringt dann aber auch ernstere Töne zur Geltung, denn Jerrys Kindheitserlebnisse sind wahrlich kein Spaß. Sie verlässt fast vollkommen die objektive Perspektive und zwingt uns quasi, die Welt durch Jerrys Augen zu sehen, und siehe da, alles wird plötzlich viel leichter und erträglicher, bunter, freundlicher, harmonischer. Die wenigen Momente zwischendurch, in denen wir die Welt so sehen, wie sie wirklich ist, etwa aus Lisas Sicht oder der seiner Psychiaterin, sind regelrecht erschütternd und auch erschreckend, sie helfen uns zu realisieren, wie komplett Jerrys Realitätsverlust ist, wie unmöglich es ihm gleichsam ist, adäquat auf die Umwelt zu reagieren, das heißt auch, jene deutlichen Signale zu registrieren, die er mit schöner Gleichmut ausblendet, die ihn bestenfalls vorübergehend irritieren, bis er wieder sein sonniges Gleichgewicht gefunden und sich eine bequeme Erklärung zurechtgelegt hat. Wie alle wirklich guten schwarzen Komödien wandelt auch diese haarscharf am dunklen Abgrund, der ist stets präsent, lockt und droht zugleich, und wie alle wirklich guten schwarzen Komödien bringt uns auch diese dazu, innigst mit dem kaputten Helden zu hoffen, es werde doch irgendwie einen Ausweg aus seiner trostlos düsteren Welt geben, denn im Grunde und mal ohne all den hanebüchenen Firlefanz drumherum ist dies eine restlos traurige, bittere Geschichte über einen Jungen, der nicht richtig erwachsen und der komplett Opfer seines Elternhauses geworden ist. Ähnlich wie Norman Bates, nur irgendwie noch trauriger, denn im Gegensatz zu Norman ist dieser Jerry ein durch und durch netter Kerl, ein All American Boy, dem niemand böse sein will. Satrapi reitet also genüsslich auf der Rasierklinge, kokettiert mit allen möglichen Tabus und Stereotypen, nimmt die spießige Kleinstadtgesellschaft ebenso aufs Korn wie die chemiefixierte Psychiatrie und erst recht alle gängigen Serienkillerklischees und überhaupt alles andere auch. „The Voices“ ist liebevoll und mit offensichtlichem Spaß an der Freud gemacht worden, was sich auch in den prächtigen, bestens gelaunten Darstellern niederschlägt, die endlich mal richtig auf die Sahne hauen dürfen. Satrapi bringt ihre alte Vorliebe für animierte Bilder eher sparsam ein, dennoch hat dieser Film natürlich eine ganz eigene, eigensinnige Bildersprache, die perfekt das subversive Ganze bedient, und wer etwa in Kategorien des guten Geschmacks urteilt, der kann gleich zuhause bleiben. Und sollte das auch tun, denn dann haben die anderen wenigstens ihren Spaß. (10.5.)