Timbuktu von Abderrahmane Sissako. Mauretanien/Frankreich, 2014. Ibrahim Ahmed, Toulou Kiki, Layla Walet Mohamed, Mehdi AG Mohamed, Hichem Yacoubi, Abel Jafri, Kettly Noel, Fatoumata Diawara
Ehre, wem Ehre gebührt: Dank an unsere lokalen Arthousekinos, dass sie das Jahr zumindest mit einigen wirklichen Arthousefilmen beginnen, gerade so, als hätten sie sich vorgenommen, der mächtigen Wohlfühlwelle in 2015 endlich etwas entgegenzusetzen. Mal sehen, ob es dabei bleibt. Ich bin jedenfalls der Ansicht, dass sechs Säle und mehr als fünfzehn Termine pro Tag dies hergeben sollten – wenn man nur will.
Und Afrika ist sowieso seit Jahr und Tag kein Thema mehr im Kino gewesen, ich meine Afrika aus afrikanischer und nicht aus europäischer oder gar US-amerikanischer Sicht. Was das in der Praxis bedeutet, und wie unglaublich unterschiedlich eben diese Sichtweisen sind, erlebt man beim Anschauen dieses Films, eines ebenso eindrucksvollen wie niederschmetternden Films eines Afrikaners über seinen Kontinent. Zwar wählt er Mali als Handlungsort, doch die Themen und Motive seiner Erzählung sind weit über diese Region hinaus gültig und zutreffend. Ein ganzer Kontinent erdrückt zwischen dem kolonialen Erbe und den vielfältigen Versuchen, sich davon zu befreien, zwischen dem grausamen Terror monströser Diktatoren und den Bestrebungen, demokratische Strukturen durchzusetzen, zwischen starken kulturellen Traditionen und Einbrüchen der Moderne, zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen, zwischen skrupelloser Geschäftemacherei und Armut, und seit vielen Jahren leider auch zwischen starken, fanatischen religiösen Gruppierungen, die absolut keine Mittel scheuen, um ihren Machteinfluss zu erweitern.
Genauso geht es Timbuktu und den Menschen darin. Eine uralte, nach wie vor schwer zugängliche Wüstensiedlung, ein mythischer Ort europäischer Sehnsüchte und Begehrlichkeiten, eine Stadt unweit des Niger mit imponierender Geschichte als Knotenpunkt alter Handelswege, kulturell irgendwo zwischen Schwarzafrika und Arabien angesiedelt. Und nun – ein halb verfallenes, halb verlassenes Kaff in Staub und Sand, zerrüttet vom Krieg, heimgesucht von der Plage des islamischen Dschihad. Die haben die Stadt besetzt und verbreiten nun ihren dogmatischen Terror, verbieten Musik, Fußball, Zigaretten, hüllen die Frauen in Sack und Asche und verhängen drakonische, barbarische Strafen über alle, die den Gesetzen der „heiligen“ Lehre zuwiderhandeln. Die Einwohner Timbuktus haben verschiedene Wege gefunden, damit umzugehen: Viele sind gegangen, andere leben in ihren Nomadenzelten außerhalb und halten sich weitestmöglich heraus, andere opponieren trotzig und unterschätzen dabei bei weitem die Brutalität der Scha‘ria, andere werden erfinderisch im Aushebeln der neuen kranken Regeln (das geniale Fußballspiel ohne Ball wird unvergesslich bleiben), wieder andere flüchten in verschiedene Formen der inneren Emigration bis hin zu dezentem Wahnsinn. Ein normales, erst recht freies Leben ist unter solchen Umständen undenkbar, viele fallen der drakonisch exerzierten Todesstrafe zum Opfer, werden verstümmelt, gesteinigt, erschossen, und hinzu kommt, dass angesichts der bereits unter normalen Umständen spannungsvollen Vielfalt der Lebensformen die Konflikte eher noch eskalieren. Nomaden und Sesshafte haben sich eben noch nie hundertprozentig verstanden, Fischer und Viehhirten schon immer um die kostbaren Wasserplätze gestritten, Muslime und Anhänger der verschiedenen afrikanischen Glaubensrichtungen noch nie wirklich harmoniert. Und dann die Sprachen: Wir hören Arabisch, Songhai, die Tuaregsprache Tamascheq, dazu natürlich Französisch und ein kurios geradebrechtes Englisch. Angesichts der vielen ganz grundlegenden Konflikte ist dieses babylonische Gemisch weder verständigungsfördernd noch problemlösend, es vertieft die Gräben im Gegenteil, abhängig auch von der Kompetenz bzw. dem Willen der Dolmetscher, die eine Äußerung auch mal nach eigenem Gusto einfärben und interpretieren. Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Offenheit, Frieden – all dies ist undenkbar, fern, unerreichbar.
Abderrahmane Sissako bedient sich in seinem Film einer eher lockeren Erzählstruktur, hat keine durchgehend erzählte Geschichte gewählt, sondern episodische Erzählungen verwoben mit dem Ergebnis, dass so ein komplexeres, breitgefächertes Gesamtbild entsteht – kein hoffnungsvolles allerdings. Ein roter Faden ist die tragische Geschichte einer Familie, die an der rigiden Rechtsprechung zugrunde geht und die beiden Kinder allein zurücklässt, ein anderer das Gebaren islamistischer Funktionäre, die mit ihren Jeeps durch die Gegend fahren, Leute schikanieren, Tiere jagen und alte Holzskulpturen zerballern, Frauen aufzureißen versuchen oder die neuesten „Bekanntmachungen“ verkünden. Dazwischen Musiker auf der Flucht, eine Mutter, die ihre Tochter nicht einem Fremden zur Frau geben will und dafür massiv bedroht wird, eine andere junge Frau, die sich nicht an das Bedeckungsverbot hält und ebenfalls drangsaliert wird, ein religiöser Führer der alten Schule, der vergeblich versucht, gegen die neuen Fanatiker an Rech und Würde festzuhalten und immer nur auf Hochmut, Unmenschlichkeit und Ignoranz trifft. Sissakos Ton ist bei alledem fast beiläufig, sehr ruhig, er findet Bilder, deren berauschende Schönheit in bitterem Kontrast steht zu dem, was sie abbilden und lässt einen traurig-trotzigen Wüstenblues erklingen, zum Beispiel gesungen von der großartigen Fatoumata Diawara.
Wie will man die Misere dieses tragischen Kontinents festmachen, wo die Ursachen verorten? Auch in „Timbuktu“ kommt vieles zur Sprache, wird vieles angedeutet, und doch scheinen die Wurzeln des Übels gerade in der Vermengung der einzelnen Faktoren zu liegen, mit den jeweiligen regionalen Besonderheiten und Varianten natürlich. Eine Antwort scheint unmöglich, jeder Film, der sie zu geben versucht, wäre hoffnungslos einfältig und zum Scheitern verurteilt, und es zeichnet den Filmemacher und Autor Sissako aus, dass er das natürlich auch nicht tut. Er zeigt das, was er zeigen kann, nämlich die Menschen zwischen Unterdrückung, Freiheitsdrang, Obrigkeitsdenken und tradierten Feindschaften, in ihren jeweiligen kulturellen Bezügen, von einem Joch unter das nächste getrieben, immer versuchend, irgendwie zu überleben als das letzte, was ihnen bleibt. Und trotz alledem gedeihen Musik, Geist und Widerstand, und erst wenn auch die gebrochen sein werden, wird es wohl keine Hoffnung mehr geben. Die letzten Bilder jedenfalls zeigen: Afrika rennt, zäh und ausdauernd, auf der Flucht, auf der Jagd, in Verzweiflung, Angst, es rennt und rennt. Ein Film aus einem völlig anderen Universum, für uns unendlich weit weg und kaum vorstellbar, und doch gelingt es Sissako, uns Timbuktu samt Land und Leute für neunzig Minuten auf seine bedächtige, detaillierte Weise ein wenig näher zu bringen. Mehr kann er nicht wollen. (6.1.)