Trash von Stephen Daldry. England/Brasilien, 2014. Rickson Teves, Eduardo Luis, Gabriel Weinstein, Selton Mello, Rooney Mara, Martin Sheen, Wagner Moura, Stepan Nercessian

   Raphael, Ratte und Gardo sind drei Jungs, leben im und vom Müll in der schönen Stadt Rio de Janeiro. Raphael findet eines Tages eine Brieftasche, darin ein Geldbündel, ein paar Fotos und andere Bilder und ein Schlüssel. Wir wissen schon mehr darüber, wie diese Brieftasche dorthin gekommen ist: Ein Mann hat sie kurz vor seiner Verhaftung über den Balkon auf den Müllwagen geworfen, wurde danach gefoltert und ermordet, folglich beinhaltet die Tasche etwas, das für ein paar hohe Tiere sehr belastend ist. Das kriegen die drei Finder auch sehr bald mit, denn die Bullen veranstalten eine Razzia in ihrer Müllsiedlung und brennen sie kurzerhand nieder. Jetzt wollen sie es genau wissen, wollen wissen, was es mit dem Inhalt der Tasche auf sich hat und wollen vor allem, dass die korrupten Schweine ganz oben auch mal was abkriegen. Verfolgt von einem oberfiesen Brutalbullen machen sie sich auf die Spur quer durch die Stadt, riskieren buchstäblich Kopf und Kragen und kommen manches Mal nur knapp mit dem Leben davon. Aber sie schaffen es, finden das kompromittierende Material, sorgen dafür, dass es via Youtube die richtige Öffentlichkeit findet und können es am schließlich an einem Traumstrand gut gehen lassen.

   Ein naives Politmärchen? Klar doch, wir wissen alle, dass die Großen letztlich immer ungeschoren bleiben und weiter ihre Sauereien durchziehen und ihre Macht zementieren können. So funktioniert die Welt überall, und niemand, der halbwegs bei klarem Verstand ist, wird sich dahingehend irgendwelche Illusionen machen. Ich geb zu, dass es mir persönlich trotz allem manchmal richtig gut tut, zu sehen, dass es ein einziges Mal auch die wahren Verbrecher erwischt, die nämlich, die den gesellschaftlichen Standard für Gier, Gewalt und Korruption vorgeben, und welches Land könnte für eine solche Lektion besser geeignet sein als Brasilien, welche Stadt besser als Rio der Janeiro? Die monströsen Missverhältnisse zwischen Luxus und Elend herrschen sicherlich auch in anderen Städten und anderen Ländern vor, keine Frage, aber Brasilien, Schauplatz gewesener und kommender prestigeträchtiger, pompöser, sündhaft teurer Großereignisse, finde ich besonders krass und bin damit offenbar auch nicht allein, wenn man sich die Handvoll beachtlicher Filme ansieht, die sich in den letzten Jahren genau mit diesem Thema befasst („City of God“ oder „Tropa da elite“, um nur die bekanntesten zu nennen) und dafür gesorgt haben, dass all die dummen Klischeebilder vom dolce vita an der Copacabana nachhaltig revidiert wurden. Aber ich schweife ab.

   Ein naives Politmärchen also, aber ein toller Film! Ich kannte vordem drei von Stephen Daldry („Billy Elliot“, „The Hours“ und „Der Vorleser“), allesamt gute bis sehr gute Filme, keiner davon jedoch ließ erwarten, dass der Mann imstande sein würde, einen derart hochprozentigen, faszinierenden Adrenalinkick zu produzieren. Wenn der Regisseur hier Fernando Meirelles geheißen hätte, würde ich mich weniger gewundert haben, dies jedoch war eine dicke Überraschung, und eine extrem positive dazu. Daldry entfesselt über die volle Distanz von knapp zwei Stunden einen derart intensiven, treibenden, atemberaubenden Bild-, Ton- und Gefühlsrausch, wie man es wirklich nur selten sieht, und manchmal fühlte ich mich an „Slumdog Millionaire“ von Danny Boyle erinnert, auch dies ein britischer Filmemacher, der sich in einem exotischen Setting zu großer Euphorie hinreißen ließ, auch dort mit beeindruckendem Resultat. Vor einer kleinen Digitalkamera erzählen die drei Jungs bruchstückhaft ihre Geschichte, und wir werden genau wie sie mitten hineingerissen in den Malstrom, wissen lediglich ein wenig mehr, das allerdings reicht, um die Befürchtungen hinsichtlich ihrer Überlebenschancen rapide zu steigern. Ein rücksichtsloser Bürgermeisterkandidat will die unbequemen Unterlagen um jeden Preis in die Hände bekommen und vernichten, und dazu schickt er seine Killer sprich die Polizei, aus, um mit buchstäblich allen Mitteln vorzugehen. Einschüchterung, Folter, Mord, alles kein Thema, niemand, der sich wehren, niemand, der Anklage erheben könnte. Müllmenschen sind nur Dreck, sind Abschaum und Schandfleck einer Gesellschaft, die sich viel lieber mit Fußball-WM und Olympia brüstet als die eklatanten sozialen Missstände im Lande anzugehen. Alles ganz offensichtlich, nichts davon ist neu, nichts müsste hier eigens verhandelt werden, wird es dann auch nicht. Der Film schwenkt keine große Botschaft vor sich her, die Verhältnisse sind so, wie sie sind, niemand macht deshalb ein Fass auf, alle versuchen, täglich zu überleben und im nächsten Mülltransport wieder was Ess- oder Verwertbares aufzustöbern, und ein paar wenige verblieben Idealisten kümmern sich um die sogenannten Seelen der Müllkinder, ein eher desillusionierter Priester etwa oder die junge Sozialarbeiterin Olivia, die die Jungs zwischendurch auch aktiv unterstützt und dafür selbst in größte Schwierigkeiten gerät. Unter welchen Umständen es ihr gelingt, aus der Gefangenschaft freigelassen zu werden, wird interessanterweise nicht ausgesprochen, ihr Gesichtsausdruck deutet jedoch einiges an. Auch diese beiden sind Relikte wohlfeiler Message Movies, auch dies hat mich überhaupt nicht gestört, denn sie werden nicht als Helden oder Heilige verklärt, auch sie sind machtlos gegen die Zustände im Großen, auch sie haben ihre Schwächen und vor allem Grenzen. Die Jungs nutzen sie auf ihre Weise aus, hängen auch an ihnen und respektieren sie durchaus, doch wenn zwischendurch mal ein kleiner Kredit vonnöten ist, wird sich halt aus der Geldkassette des Paters bedient, was umso leichter wird, wenn der alte Knabe erst mal wieder seiner Flasche zugesprochen hat, was er zuverlässig jeden Tag tut, um das Leben hier überhaupt aushalten zu können.

   Daldry hält die Spannung vom Anfang bis Ende auf höchstem Level, der Rhythmus ist dicht, treibend, hochenergetisch, der Weg aus dem Müllghetto mitten rein in die Stadt, in die Favellas, wo die Suche weiter geht und wo ihnen die Bullen haarscharf auf den Fersen sind, in eines der grauenhaften brasilianischen Gefängnisse, wo sie auf den Vater des Mannes stoßen, der einst die Tasche fortwarf und der ihnen den Hinweis gibt, wie sie das Rätsel angehen müssen und schließlich auf den Friedhof, auf dem sich das Finale abspielt. Erst ganz zum Schluss lässt die Spannung nach und gibt den Blick frei auf eine Vision vom Paradies, die wohl doch in allzu scharfem Kontrast zu der Welt davor steht, die man den Jungs aber auch von Herzen gönnen mag. Da ich ein oller Mieseheinrich bin, hätte ich genau darauf vielleicht verzichten können, but what the fuck – der Film ist einfach große Klasse, unglaublich emotional, dramatisch, eindrucksvoll, toll gespielt von allen Beteiligten, und trotz der möglicherweise märchenhaften Elemente öffnet sich doch ein bestürzender Blick auf brasilianische Realitäten, ohne dass großes Gewese darum gemacht werden müsste. Wer kritisiert, dass der Film sein Thema und die dahinter liegenden Zusammenhänge banalisiere, liegt meiner Ansicht nach falsch, er nähert sich ihnen nur nicht als Dokumentarfilm sondern durchaus mit den Mitteln des Unterhaltungskinos, aber eben so, dass ich es voll akzeptieren kann – und fallen mir etliche Produktionen ein, über die ich das beileibe nicht sagen könnte! Als ich dann den Namen des Drehbuchautors zur Kenntnis nahm, kriegte ich meinen zweiten Flash. Richard Curtis ist mir bislang nur im Zusammenhang mit urbritischem Wohlfühlkram aufgefallen, oft genug auch noch ziemlich seichtem und nicht mal sonderlich gutem Wohlfühlkram, und ihn jetzt hier mit diesem Projekt assoziiert zu sehen, fand ich schon einigermaßen erstaunlich. Vielleicht hat der Knabe in sich ja auch eine Seite, die nach mehr strebt als nur vier Hochzeiten und ein Todesfall tatsächlich Liebe Notting Hill Bridget Jones oder Radio bloody Rock Revolution…

 

   Dieses eine Mal haben er und sein Regisseur alles richtig gemacht, haben zwei grandiose, mitreißende Kinostunden mit Unterbau und Anliegen fabriziert, und was will ich mehr? (20.6.)