Umimachi diary (Unsere kleine Schwester) von Hirokazu Kore-eda. Japan, 2015. Suzu Hirose, Haruka Ayase, Masami Nagasawa, Kaho, Ryo Kase, Ryohei Suzuki, Ohshiro Maeda, Kirin Kiki

 Bei „Still walking“ hatte man ja noch Parallelen zwischen Kore-edas und Ozus Werk hergestellt – ein größeres Kompliment könnte man einem Filmregisseur, zumal einem japanischen, wohl kaum machen. Diese Parallelen würde ich hier in Bezug auf die Themen und auf die Haltung des Autors auf jeden Fall auch sehen, allerdings ganz deutlich nicht in ästhetischer Hinsicht. „Unsere kleine Schwester“ ist kein aus der Bodenperspektive fotografiertes rituelles Stillleben, sondern durchaus ein moderner Film, ist auch ein der Film, der sich anders als Ozu gewisser Mittel zur emotionalen Unterstützung bedient, vor allem natürlich der Musik. Die Puristen unter uns mögen darob das Näschen rümpfen, mir ist das sowas von wurscht – dieser Film ist wahrlich ein würdiger Abschluss dieses Kinojahres, und ich könnte mir absolut nichts vorstellen, was hiernach noch zu sagen wäre. Ein Film über die sogenannten kleinen Dinge des Lebens, so wie Kore-eda sie immer zu machen pflegt, und so wie er diese kleinen Dinge zeigt und inszeniert, werden sie plötzlich ganz groß, einzig wichtig. Ein Film, dem es tatsächlich gelingt, einen kalten Fisch wie mich zwei Stunden lang auf ein völlig anderes Gleis zu setzen, wenn ich mal so sagen darf, ein regelrecht bewusstseinserweiterndes Erlebnis. Hört sich irgendwie pathetisch oder schräg an, ist aber so. Manche Filme haben das schon bewerkstelligt, wenige auf so, tja, bestechend friedvolle Weise wie dieser.

   Worum geht’s eigentlich? Um alles und nichts. Um Familie natürlich, wie eigentlich immer bei Kore-eda, um Kinder ohne Eltern, wie ebenfalls häufig bei ihm. Drei Schwestern leben allein im Haus ihrer Großmutter. Der Vater hat die Familie vor fünfzehn Jahren verlassen, um sich weiteren Abenteuern zu widmen und eine neue Beziehung einzugehen. Die Mutter lebt ebenfalls nicht mehr dort, hat sich auch ein neues Leben aufgebaut. Die Schwestern sind erwachsen, haben Jobs, bewältigen ihren Alltag. Als sie vom Tod ihres Vaters erfahren, reagieren sie zögernd, zunächst nehmen nur zwei die Einladung zur Trauerfeier an, die älteste kommt später dazu. Sie erfahren von der Existenz einer jungen Halbschwester, der Tochter ihres Vaters mit seiner späteren Frau, die auch bereits verstorben ist. Sie lernen sie kennen und laden sie spontan zu sich nach Hause ein, zumal das Mädchen selbst nun auch  keine Familie mehr hat. Aus der Einladung wird ein Zusammenleben auf Dauer. Suzu geht nun zu einer Schule am Ort, spielt in der Fußballmannschaft mit und erfährt einiges über das schwierige Verhältnis der drei großen Schwestern zu ihrer Mutter. Und sie lernt ihre Halbschwestern kennen: Sachi die Älteste, die die Verantwortung immer auf sich genommen hat, die praktisch nur für ihren Beruf als Ärztin und ihre Rolle als die Vernünftige, die Organisatorin lebt und die darüber vergessen hat, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Ihr Zorn auf die Mutter ist am größten, schließlich wurde ihr die gesamte Last aufgebürdet, nachdem die Mutter sie auch verlassen hatte. Ein Kollege, mit dem sie kurz und unentschlossen anbändelt, erkennt, dass ihr die Jugend genommen wurde und es nun an ihr sei, sie sich wenigstens teilweise zurückzuholen. Der Kontakt zur der jungen, quirligen Halbschwester ist ein erster Schritt dazu. Yoshino ist die Mittlere, die hübscheste, die mit dem chaotischen Liebesleben und dem lebhaften Alkoholkonsum, wenn sie mal wieder von einem ihrer nichtsnutzigen Kerle versetzt wurde. Sachi wirft ihr gern und häufig Verantwortungslosigkeit und Trägheit vor und dass sie überhaupt keinen Ehrgeiz hat und nichts aus sich macht. Die beiden Großen zoffen und zicken ständig, doch wenn es darauf ankommt, das wissen sie beide, halten sie immer zusammen. Das weiß auch Chika, die jüngste, die flippige, die unbeschwerte, die sich nicht so viele Sorgen und Gedanken macht, die einen kleinen Job in einem Laden hat, sich des Lebens freut, und an ihre Eltern sowieso nicht so viele Erinnerungen hat, denn sie war noch klein, als die verschwanden. Suzu findet in dieser launischen Dreimädchengemeinschaft sofort ihren Platz, der sich aber nach und nach ein wenig verändert, als sie älter wird, anders über die Dinge nachdenkt und einen eigenen Standpunkt entwickelt. Der Tod einer Nachbarin und guten Freundin, die eine von den Schwestern sehr häufig besuchte Imbissbude besaß, ist ein Einschnitt in ihrem Leben, und als zur jährlichen Trauerzeremonie die Mutter der drei Schwestern nach zwölfjähriger Abwesenheit auftaucht, hat Sachi endlich die Gelegenheit, sich mit ihr auseinanderzusetzen und vielleicht auch selbst ihren Frieden zu machen.

   Kore-eda verfolgt den Alltag der vier Schwestern, nicht mehr, und mehr muss er auch nicht tun. Seine Ruhe, Geduld, Aufmerksamkeit und vor allem seine tiefe Zuneigung zu diesen vier Frauen bzw. Mädchen durchwirken jedes einzelne Bild, jede Szene. Erst bei Filmen wie diesen erlebe ich selbst, wie stark meine eigenen Gewohnheiten und Erwartungen geprägt sind von grobschlächtiger Haudrauf-Dramaturgie, wie total ich mich in diese scheinbare Unabänderlichkeit gefügt habe. Ständig erwarte ich hinter der nächsten Ecke die Eskalation, die Krise, das Drama, und ich merke selbst, wie schwer es einerseits ist, solch einem Film zu folgen, und wie unendlich heilsam andererseits. Gut, dass er so lang ist, denn ich habe bestimmt eine volle Stunde benötigt, um mich ihm zu überlassen, um darauf zu vertrauen, dass all der Scheiß, der ein gewöhnliches Drama auszeichnet, hier nicht passieren wird, dass ich mich entspannend und lieber auf die leiseren Töne hören kann. Denn es ist ja nicht so, dass hier keine Konflikte und Probleme vorkommen, ganz im Gegenteil. Sie werden nur ganz anders verarbeitet. Gerade die beiden älteren Schwestern verbergen hinter ihrem Alltagsgezänk durchaus tiefer liegenden Neid und Frust, beide erleben Enttäuschungen und finden keinen richtigen Weg, damit umzugehen. Sachi glaubt ständig, auch zuhause ihre Haltung bewahren zu müssen, nicht das Gesicht verlieren, keine Schwäche zeigen zu dürfen, und auch deshalb ist sie oft sauer auf die sprunghafte, leichtlebige Yoshino, die in allem das genaue Gegenteil von ihr zu sein scheint, manchmal aber eben auch Anteile auslebt, die sie selbst gern ausleben würde und die auszuleben sie sich verbietet, weil sie ja auch die beiden aufpassen muss. Yoshinos eher pragmatische Haltung zu den Eltern kann sie nicht teilen, sie ist voller Wut und Vorwürfen, und erst nachdem sie ihrer Mutter alles an den Kopf geworfen hat, kann sie ein wenig loslassen. Sie verkörpert mehr als ihre Schwestern den Konflikt zwischen Ansprüchen, Forderungen, Verpflichtungen. Das ist die Familie mit ihren Werten, die sie durchaus übernommen hat, da ist aber auch die moderne Berufswelt, die ihr ebenfalls wichtig ist und in der sie vorankommen will. Als der bewusste Kollege ihr erklärt, werde sich scheiden lassen und einen Job in den USA übernehmen und sie fragt, ob sie nicht mit ihm kommen wolle, kann sie sich nicht dafür entscheiden, kann sich von ihrer Rolle nicht lösen, obwohl die beiden Schwestern sie immer schon ein bisschen anschieben sie geradezu bedrängen, endlich zu heiraten, damit vielleicht auch diese Gemeinschaft aufgelöst werden könnte. So schleichen sich unter all die zutiefst friedlichen, harmonischen Bilder und Szenen auch andere Töne und sorgen dafür, dass es hier nicht um banales, oberflächliches Wohlfühlkino geht. Davon ist Kore-eda sehr weit entfernt, und ich hoffe auch, dass dies so bleiben wird. Wie er das Zusammenleben der drei bzw. vier Schwestern verfolgt, wie diese vier großartigen Darstellerinnen zusammenspielen, wie hier die Dinge des Lebens aufgenommen und dann auch wieder verlassen werden, das ist wunderbar und ganz große Kinokunst. Kore-eda hat sehr viel mehr Filme inszeniert, als wir hier mitbekommen. Das ist leider normal und nicht zu ändern, das bejammere ich seit Ewigkeiten und werde es auch weiter bejammern, doch wenn wenigstens ab und zu mal ein Film von ihm zu uns in die Kinos kommt, bin ich schon froh und glücklich, denn wenn ich doch mal von „Lichtblicken“ rede, dann meine ich einen Film wie diesen. (30.12.)