Victoria von Sebastian Schipper. BRD, 2014. Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yiğit, Max Mauff, André Hennicke
Victoria heißt das Mädchen aus Madrid, das gerade in Berlin lebt, in einem Café jobbt und sonst vor allem feiern geht. Eines Nachts begegnet sie einer Viererclique ziemlich durchgeknallter Jungs, die offensichtlich Geburtstag feiern und die sie überreden, und mit ihnen um die Häuser zu ziehen. Sonne, der Victoria ganz ungeniert anbaggert und in den sie sich schließlich auch verliebt, Boxer, der harte Typ mit viel Körperlichkeit zwischen Tanz und Dresche, Blinker, spindeldürr und flippig und Geburtstagskind Fuß, der sein Fassungsvermögen in Sachen Alkohol bald überschätzt. Irgendwann muss sie erfahren, dass hinter ihrer überdrehten Herumalberei etwas anderes steckt, nämlich Angst. Sie treffen einen coolen Finstermann in einer Tiefgarage, dem Boxer aus dem Knast noch Kohle schuldig ist. Sie sollen frühmorgens eine kleine Kreditbank ausheben und fünfzigtausend Euro abkassieren, von denen Finstermann ein Fünftel für sich reklamiert. Und weil Fuß total stramm in Victorias Café zurückgeblieben ist und ihnen nun der Fahrer fehlt, wird das Mädchen kurzerhand für den Job engagiert. Obwohl die Jungs keine Erfahrung und mächtig Schiss in der Buchse haben, kriegen sie die Sache irgendwie hin und toben sich anschließend in genau dem Club aus, für den ihnen früher am Abend das Geld fehlte und wo sie Victoria kennenlernten. Dann aber kommen ihnen doch die Bullen auf die Spur, und alles geht furchtbar den Bach runter. Boxer und Blinker sterben im Feuergefecht, Victoria und Sonne können irgendwie entkommen, nehmen zwischendurch sogar ein Baby als Tarnung mit, finden in einem Nobelhotel Unterschlupf, doch dort geht die Flucht zu Ende, weil der angeschossene Sonne im Hotelbett verblutet. Victoria schnappt sich die Tüte mit dem Geld und geht hinaus in den Berliner Morgen.
Die Tatsache, dass diese zweieinhalb Stunden in einem Rutsch und ganz ohne Schnitt gedreht wurden, ist an sich für mich noch nicht mal das Spektakulärste, und so ganz neu isses ja auch nicht. Meister Hitchcock hat es vor fünfundsechzig Jahren in „Rope“ auch schon ähnlich gemacht, musste damals lediglich den technischen Limits Tribut zollen und alle zehn Minuten dicht an irgendeine Fläche ranfahren, um den Wechsel der Filmrolle zu kaschieren. Und er musste sich notgedrungen auf ein theaterhaftes Einzimmerinterieur beschränken, während Schippers buchstäblich entfesselte Handkamera überall ist, den Akteuren immer auf den Fersen, im Club, auf der Tanzfläche, draußen auf den Straßen, oben auf dem Dach, in Wohnungen, Treppenhäusern, überall. Beide hat natürlich die technische Herausforderung gereizt, und da hat Schipper einerseits ganz andere Voraussetzungen, nimmt sich andererseits aber auch viel mehr vor. Sein Film ist fast doppelt so lang wie „Rope“, und schon während des Zuschauens wird überaus deutlich, welch kraftraubende tour de force hier zustande gekommen ist und welch großartige Leistung alle daran Beteiligten vollbracht haben, denn wie ich las, sind schon mehrere Durchgänge gedreht worden, was sich ja auch gar nicht anders denken lässt. Allein was die Schauspieler leisten, wie sie miteinander spielen, aufeinander reagieren, wie sie sich auch mal durch den einen oder anderen Hänger manövrieren oder die eine oder andere nicht ganz so coole Replik überspielen, ist fantastisch, genau wie die Arbeit des Kameramannes, der maßgeblich für den hypnotischen Sog sorgt, den diese Geschichte entwickelt. Gedreht in Echtzeit, zweieinhalb Stunden lang, anfangs ist es noch tiefe Nacht, zwischenzeitlich sehen wir die Dämmerung aufziehen, am Schluss ist fast heller Tag, nur noch ohne das sonst gewohnte Brausen der Stadt. Die wird hier natürlich auch ausführlich gewürdigt, die Orte und Straßen, die Leute darin, das Lebensgefühl, das die vier durchaus transportieren, wenn auch eher speziell und eher gebrochen, denn sie gehören nicht gerade zur Elite, sondern eher ans entgegengesetzte Ende der Hackordnung. Aber sie sind Berliner, fühlen sich auch so, lieben ihre Stadt und kennen ihre Sprache und Regeln. Anders als Victoria, die fremd ist, die nur englisch spricht, und für die alles buchstäblich übersetzt werden muss. Ihr unbefangener, neugieriger Blick inspiriert sie, vor allem Sonne, der sich bald ernsthaft um sie bemüht. Die erste Hälfte des Films wirkt der Handlung entsprechend alles in allem noch ein wenig ziellos, lässt sich zusammen mit den Fünf durch die Berliner Nacht treiben, verfolgt ihren Unfug, ihre Raufereien, ihre kleinen Machospielchen um Victoria, und nichts deutet darauf hin, dass daraus mal ein waschechtes, knallhartes Drama werden könnte. Der gewohnt formidable André Hennicke bringt mit seinem eisigen Auftritt einen neuen Tonfall in die Story, einen erschreckend fremden, der uns daran erinnert, dass außerhalb der Jungswelt noch eine andere gibt. Wir bleiben zumeist bei Victoria, ihren Reaktionen und Stimmungen, ihre spontanen Offenheit und Neugier, ihrer Sympathie und ihrem Spaß, und erleben hautnahe, wie aus alldem in bestürzend kurzer Zeit etwas radikal anderes wird, bei ihr wie bei den drei Jungs. Die letzte halbe Stunde ist Adrenalin pur, ich habe wahrscheinlich noch nie ein solch mitreißende halbe Stunde im deutschen Film gesehen, und genau hier setzt das ein, was ich wirklich erstaunlich finde an Schippers Projekt. Er macht das Ganze nicht nur zum Selbstzweck oder für l‘art pur l’art, was bei Hitchcock durchaus eine Rolle gespielt haben wird, er nutzt die Technik, um eine Spannung zu erzeugen, einen Sog, eine Unmittelbarkeit, Intensität, wie ich sie wirklich in dieser Form selten erlebt habe. Alles bricht plötzlich über die total überforderten vier jungen Leute herein, Panik, Angst, Hysterie, völlige Entgeisterung, dann ein kurzer Moment purer Euphorie, als sie realisieren, dass sie für den Moment davongekommen sind und das Geld tatsächlich haben und sich wie die Herren der Welt fühlen, und schließlich das totale Chaos, als die Zivilbullen aufkreuzen und hinter ihnen die schwer bewaffneten Einheiten, die sie in einem Hinterhof stellen. Victorias und Sonnes Flucht ist fast beängstigend fiebrig, man spürt selbst als Zuschauer die Angst, dass alles jeden Moment entgleisen könnte, bis hin zu dem Moment, da Victoria in dem Hotel erkennt, dass Sonne tödlich verwundet wurde und sie sich nur noch entscheiden kann, auf die Uniformen zu warten, oder doch das Geld zu nehmen und einfach davonzugehen. Am Ende bleiben auch wir ordentlich durchgerüttelt und, zumindest was mich betrifft, arg bewegt und beeindruckt zurück. Ein Film, der viel mehr ist als nur ein gelungenes Experiment, ein zugleich hochmodernes und zeitloses Drama, ein mitreißendes Stück Großstadtkino – ganz große Klasse! (16.6.)