Relatos salvajes (Wild Tales) von Damián Szifrón. Argentinien/Spanien, 2014. Ricardo Darín, Oscar Martinez, Osmar Núñez, Germán de Silva, Diego Velásquez, Leonardo Sbaraglia, Walter Donado, Érica Rivas, Diego Gentile, Julieta Zylberberg, Rita Cortese, Dario Grandinetti, María Marull
Sechs Kurzgeschichten aus den unerschöpflichen Themenfeldern Vergeltung und Eskalation, sechs Beispiele für Situationen, die häufig ganz harmlos beginnen und langsam aber sicher aus dem Ruder laufen, sechs rabenschwarze Episoden, die mal düster enden, mal auch verstörend, manchmal aber auch mit einer eher humorigen Note (um nicht direkt von versöhnlich zu sprechen).
Manche der Situationen sind uns grundsätzlich allzu vertraut: Eine ganz gewöhnliche Rempelei unter Automachos auf der Straße entwickelt sich zum Kampf auf Leben und Tod, der schließlich im Ableben beider Streithähne mündet. Beide verbrennen im Wagen, im finalen Clinch eng umschlungen, sodass die hinzugerufene Polizei schon auf ein Verbrechen aus Leidenschaft tippt. Oder: Eine pompöse Hochzeit entgleist nach und nach zum Fiasko, als die Braut herausbekommt, dass ihr Frischvermählter noch schnell was mit einer anderen hatte und eine wüste Szene vom Zaun bricht, die um ein Haar zur Saalschlacht auswächst, zum Schluss jedoch wie durch ein Wunder noch auf friedlichere Gleise umgelenkt werden kann. Oder: Ein ganz normaler Bürger und Familienvater gerät durch eine ganz normale Behördenschikane (Autoabschleppen wegen Parkens im Halteverbot) dermaßen aus der Bahn, dass er fast zum Kampf gegen die ganze Obrigkeit rüsten will, und da er zufällig Sprengmeister ist, verfügt er natürlich auch über die entsprechenden Mittel dazu. Nachdem er eigentlich schon alles verloren hat, inklusive Frau und Familie, mutiert er im Knast zum Volkshelden, zu dem Mann, der es gewagt hat, gegen „die da oben“ aufzubegehren.
Dann gibt‘s zwei Rachegeschichten, die eine unfassbar ausgeklügelt, die andere eher spontan: Eine Bedienung im Imbissrestaurant trifft als Gast just den Mann, der einst für Untergang und Ruin ihrer Familie verantwortlich war, und da der Kerl immer noch so ein aufgeblasenes Schwein ist wie damals, würde sie ihn am liebsten… Was sie, gehemmt durch Ängste und Skrupel, nicht fertig kriegt, vollendet dann ihre Kollegin aus der Küche, eine patente Person mit einiger Vorerfahrung, die auch spontan umdisponieren kann, sprich als das Rattengift nicht die gewünschte Wirkung zeigt, zum großen Messerchen greift. Die ausgeklügelte geht so: Ein Mann quatscht eine Frau im Flugzeug an, die beiden stellen fest, dass sie einen gemeinsamen Bekannten haben, und nach und nach gesellen sich alle anderen Fluggäste hinzu, die diesen Mann auch kennen, allerdings jeweils aus eher unerfreulichen Zusammenhängen. Was zunächst wie ein kurioser Zufall aussieht, entpuppt sich als abgekartete Wahnsinnstat eines Paranoikers, denn der hat just die Gewalt über das Steuer übernommen und lenkt den Flieger mitsamt all denen, die ihm im Laufe seines Lebens Schmerz und Demütigung zugefügt haben, geradewegs in den Garten seiner Eltern, denn dort, so versichert ihm auch nochmal sein langjähriger Analytiker, liegt die Ursache für all sein Leid.
Und dann gibt’s noch die verstörende Geschichte: Ein Söhnchen aus reichem Hause tötet mit seinem Auto eine schwangere Frau, Paps ersinnt einen Plan, um ihn vor Unheil zu bewahren. Er will seinen langjährigen Hausmeister als Schuldigen hinhängen, ihn großzügig abfinden und durch einen hinzugezogenen Anwalt sicherstellen, dass die Gefängnisstrafe nicht allzu hoch ausfällt. Als dann mehr und mehr Beteiligte mehr und mehr Geld fordern (ein „kooperativer“ Ermittlungsbeamter ist natürlich auch noch mit im Boot), ist bei Papi irgendwann das Wasser heiß, er haut auf den Tisch, eine Million schüttet er aus für alle, und das muss reichen, ansonsten geht halt der Sohn in den Knast. Der Deal kommt tatsächlich zustande, doch beim Gang an die Öffentlichkeit wird der vermeintlich Schuldige vom rasenden Ehemann der Toten erschlagen.
Manchmal wähnen wir uns in einer klassischen Slapstickcomedy, manchmal in einer grimmigen Gesellschaftssatire, die fast schon buñuelsche Züge annimmt. Die Gesetze der Eskalation setzen eine gewisse Disposition voraus, einen tiefer liegenden Stress, lang schwelende Frustration oder Unzufriedenheit, die dann im Falle eines zusätzlich von außen eintretenden Ereignisses rasant zu Wirkung kommen kann, oft ganz unproportional zu jenem Ereignis, so wie im Fall des Bömbchens. Manchmal liegt’s nur daran, dass die Beteiligten nicht in der Lage oder auch nicht willens sind, die sich bietenden Chancen zur vorzeitigen Beilegung des Konflikts zu ergreifen, der Wille zur Konfrontation nimmt einfach überhand, so wie bei den beiden Autofahrern. Das ist wunderbar, Laurel & Hardy in Reinkultur, der Wahnwitz, der in uns allen steckt, manchmal erschreckend dicht unter der „zivilisierten“ Oberfläche, und der immer darauf lauert, von der Kette gelassen zu werden. Was im herkömmlichen tit-for-tat-Schema nur höchst selten zur Gefahr für Leib und Leben ausartete, wird hier natürlich auf eine groteske Spitze getrieben, so haben sich halt die Zeiten geändert, so haben vor allem auch wir uns geändert mitsamt unserer Reizschwellen. Manchmal eilt die Eskalation mit den Betroffenen davon, entwickelt eine tödliche Eigendynamik, ist nicht zu stoppen, manchmal kann sie wider aller Erwartungen noch eingefangen und aufgehalten werden, was uns Zuschauer jeweils zu lustvollen Spekulationen reizt – na, wie geht’s aus, kriegen sie noch die Kurve oder geht alles den Bach runter? Das Schöne dabei ist: Das Blatt wendet sich mehrmals, Gewinner werden plötzlich zu Verlierern und umgekehrt, das heißt, ein gehöriges Maß an Gehässigkeit und Schadenfreude schwingen auch mit, soziale Hierarchien spielen selbstverständlich eine prominente Rolle, und wir können unsere eigene Position schön auf den Prüfstand stellen, wenn es darum geht, wem nun unser Mitgefühl vorrangig gilt.
Natürlich sind dies nicht in erster Linie moralische Geschichten, eher ein grimmig schwarzes Spiel mit den Regeln von Moral und Menschlichkeit, meistens wie gesagt bleibt’s im vergnüglichen Rahmen (sofern man einen Sinn für solchen Humor hat), einmal allerdings wird auch diese Erwartung brüskiert, wenn nämlich der gänzlich unschuldige und eigentlich auch gegen seinen Willen in eine Intrige hineingezogene Hausmeister geopfert wird, damit die wohlhabenden Herrschaften heil und sauber davon kommen. Dies ist die eine Geschichte, während der nicht gelacht wird, die sicherlich auch nicht komisch gemeint ist, ansonsten ist dies ein Festmahl für Genießer des Makabren. Die Kunst besteht immer darin, die Ausgangslage so real wie möglich zu gestalten, für alle wieder erkennbar, vielfach selbst erlebt, um dann langsam aber sicher die Schraube anzuziehen und möglichst immer noch eine Drehung weiter, als wir erwartet hatten. Diese Kunst hat der Autor und Regisseur Szifrón hier zur Vollendung zelebriert. Gerade durch die Überzeichnung erkennen wir den Wahnsinn in uns und im täglichen Zusammenleben (vor allem wohl im urbanen Milieu), erkennen auch, wie hauchdünn oft das Eis ist, auf dem wir stehen, wie haarscharf die Grenze ist zwischen friedvoller Koexistenz und blanker Aggression. Jeder einzelne hat sein Päckchen, hat mit Sicherheit irgendeinen guten Grund, auch mal auszurasten, und es gibt aus der Realität leider mehr als reichlich Beispiele für Leute, die das auch tun, nur ist das dann nicht mehr lustig. Hier wird auf fast geniale Weise eine Gesellschaft karikiert, in der jeder glaubt, den eigenen Frust an irgendjemandem auslassen zu dürfen, bestenfalls noch an den Verantwortlichen, manchmal aber auch ganz willkürlich am Nächstbesten. Das ist ebenso erschreckend wie normal, und man kann diesem Phänomen nun mit unterschiedlichen Methoden zu Leibe rücken. „Wild Tales“ tut es mit den Mitteln der schwarzen Komödie, der Satire, und das ist in diesem Rahmen grandios gelungen. In unser Lachen mischt sich stets auch das Entsetzen über uns selbst und unsere Impulse, und so gesehen ist dies auch ein ganz „gesunder“ Film, so merkwürdig sich das auch anhören mag. (21.1.)