ş Uykusu (Winterschlaf) von Nuri Bilge Ceylan. Türkei/Frankreich/BRD, 2014. Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbağ, Ayberk Pekcan, Nejat İşler, Serhat Kılıç, Tamer Levent

   Kappadokien im Winter – eine schroffe, bizarre Landschaft, Häuser gebaut in Gestein, höhlenartige Gebilde, eine ganzes Dorf eng ins Tal gepfercht, dann aber auch riesige Ebenen, großräumige Gebirge. Die abweisende Kälte korrespondiert vollkommen mit der Kälte, die zwischen den hier auftretenden Mensch herrscht, auch ihrer inneren Kälte. „Winterschlaf“ seziert in episch langen Dialogsequenzen das Miteinander der Bewohner, der Familien, der Ehepaare, der Freunde, Nachbarn, Mieter und Hausbesitzer. Komplexe zwischenmenschliche und hierarchische Gebilde sind das, gewaltige tektonische Verschiebungen finden inmitten dieser erstarrten Struktur nicht statt, man könnte eher von kleineren Beben sprechen, die den Mikrokosmos dafür umso nachhaltiger erschüttern könnten.

   Im Zentrum steht ein Felsenhotel, geerbt und geleitet von Herrn Aydın, einem milden Graubart, ehemaligem Schauspieler und Kolumnenschreiber, der dort zusammen mit seiner jungen Frau Nihal und seiner Schwester Necla lebt und der zusätzlich noch einige Wohnungen vom Vater übernommen hat, die an ärmere Leute vermietet werden. Anfänglich haben wir keinen so klaren Eindruck von Aydın, erleben ihn eher zurückhaltend, fast passiv, auch als es zum Konflikt mit einigen Mietern kommt, vor allem mit der Familie des kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassenen İsmail, einem stolzen, zornigen Mann, dessen ebenso stolzer, zorniger kleiner Sohn bereits Steine in Aydıns Autoscheibe schmeißt. Anders als sein Gehilfe, der sofort voll auf den aggressiven Ton İsmails eingeht, bleibt Aydın im Hintergrund, und auch im Hotel scheint er sich zurückzuhalten, die Frauen haben das Sagen. Erst allmählich, eigentlich erst in seinem ersten Duett mit Nihal offenbart Aydın andere, dunklere, negative Züge und entpuppt sich auf lange Strecke als enorm selbstgerechter Pascha, der das Engagement seiner jungen Frau für lokale Schulen mit verächtlicher Herablassung abtut, in allem den überlegenen Denker gibt, sogar versucht, die Organisation des Spendenprojekts an sich zu reißen, damit überhaupt etwas daraus wird. Zudem beobachtet er eifersüchtig Nihals Kontakt zu einem jungen Kollegen, und sowieso offenbart sich eine Ehe, die längst erstarrt und entfremdet ist, zwei Eheleute, die in verschiedenen Welten leben und sich nicht mehr viel zu sagen haben. Allein Aydıns Besitzdenken und Nihals Ängste halten sie noch zusammen, angefochten wird die Ehe zusätzlich von der jüngst geschiedenen Necla, die Nihal mit schlecht verhohlener Ungnade behandelt und sich beim Bruder ausheult über ihr sinnloses Leben. Da hat sie genau den richtigen Zuhörer gefunden, denn auch Aydın hat nicht gerade eine Erfolgsgeschichte aufzuweisen: Einst ein angeblich gefragter Schauspieler in der Hauptstadt, folgte er dann dem Ruf der Familie zurück in die Provinz, übernahm Hotels und Mietshäuser, alles natürlich eher unfreiwillig, und müht sich nun als Möchtegernautor an einem ersten Buch ab, das aber einfach nicht vorankommen will. Nun pflegt er gelegentlich mit dem besten Freund wohlige Männerschwermut, streift mit trüber Miene durch die Gegend und gefällt sich als missverstandener Kulturmensch in der Fremde. Als er sich nach einem bitteren Streit mit Nihal zur Abreise nach Istanbul entschließt, geraten die Ereignisse dann doch mal etwas in Wallung. Natürlich fährt Aydın dann doch nicht, sondern landet nach nächtlicher Irrfahrt im Schnee bei einem Saufgelage beim Freund zusammen mit dem Lehrerkonkurrenten. Währenddessen fährt Nihal zu İsmail und bietet ihm und seiner Familie eine größere Summe Geld aus dem Spendenfonds als Unterstützung an. İsmail weist das Angebot scharf zurück, demütigt sie als verlogene und naive Wohltäterin, die nur ihr Gewissen beruhigen wolle und froh sei, dass es Menschen gibt, die noch tiefer gefallen sind als sie selbst. Aydın kehrt am anderen Morgen nach einem Jagdausflug zurück zu Nihal, nicht zu ihrer Freude natürlich. Sie lebt weiter wie im Gefängnis, er arbeitet an seinem Buch, nun anscheinend mit mehr Erfolg, nicht ohne zuvor wenigsten im Innern eine halbwegs ehrliche Bilanz seines Scheiterns und seiner seelischen Leere gezogen zu haben.

 

   Nuri Bilge Ceylan inszeniert dies als hoch konzentriertes, sehr intensives Kammerspiel, durchgehend spannend trotz der enormen Länge, wobei er einige Szenen fast schon über die Grenze des Quälenden hinaus ausdehnt, sodass wir Zuschauer regelrecht das Ende der Situation herbeisehnen. Die deutlich an klassische Theaterstücke angelehnten Duette, Trios oder auch Quartette sind von bestechender Brillanz, wie schon gesagt teilweise quälend lang und überaus real als gnadenlose Seelenschau, die mich vor allem an den einen Großmeister derselben erinnert hat. Frappierende ist besonders, wie Ceylan die einzelnen Szenen aufbaut, wie er die Förmlichkeiten einbindet, die Floskeln, Redeweisen, Höflichkeitsformeln, wie er seine Duellanten vom Belanglosen langsam aber sicher zu Kern der Sache kommen lässt. Früher oder später, so wissen wir nach einiger Zeit, wird der Kern des Konflikts zutage gefördert, der wahre, ganz tief drin liegende Kern, alles davor ist nur Zeremonie, einleitendes Schattenboxen. So kunstvoll hat man das lange nicht mehr im Kino gesehen, selbst die besten Theaterstücke erreichen selten diese Perfektion, und mit filmischen Mitteln lässt sich das anfängliche Umkreisen, das Belauern, das Herantasten noch viel wirkungsvoller in Szene setzen, und genau das geschieht hier immer wieder von neuem. Mal endet eine solche Szene in jähen Aggressionsausbrüchen, mal in bitterem Schweigen, fast immer aber sind sich die Personen nachher ferner und feindlicher als vorher. Das hat fast schon etwas Rituelles, und es gelingt nur, wenn Buch, Regie, Kamera und die Akteure perfekt zusammen arbeiten. Und wenn man diesen Film innerhalb der Grenzen seines Genres betrachtet, kann man schon von perfekt sprechen. Die meditative Langsamkeit, die dunkel Schönheit vieler Tableaus, die ruhigen, fast starren Einstellungen während der Gespräche, die süße Schwermut von Franz Schuberts Klaviersonate und vor allem natürlich das wirklich großartige Spiel der Schauspieler ergeben zusammengenommen ein Psychodrama allererster Güte und zugleich einen Film, der heutzutage zur absoluten Seltenheit geworden ist, Kunst-und Kopfkino auch für die Sinne, eine seelische Tiefenbohrung im wahrsten Sinne, ein strenges Exerzitium, dem man sich vermutlich nur dann aussetzen wird, wenn man es auch wirklich will. Eine Studie auch in sozialen Hierarchien und Strukturen, in Traditionen, Missverständnissen, vor allem in verschiedenen Formen der Einsamkeit. Zwischendrin ein japanisches Touristenpärchen, das in seiner Unschuld fast rührend wirkt und ein anatolisches Wildpferd, das von Aydın letztendlich wieder auf freien Fuß gesetzt wird, weil er erkennt, dass man nicht alles gegen seinen Willen zähmen und erobern kann. Und immer wieder diese kunstvoll konstruierten Wortgefechte, die natürlich an den Meister Ingmar denken lassen. Der wäre mit Sicherheit über vieles hier sehr glücklich und stolz, eines aber muss auch klar sein: Der Meister Ingmar, wenigstens zu seiner besten Zeit, hätte für sowas nie im Leben einhundertsechsundneunzig Minuten gebraucht, der hätte die Sache in der Hälfte der Zeit abgewickelt und zwar ohne wesentlichen Substanzverlust. Das aber war seine ganz spezifische Kunst, das hat ihm eh nie einer nachmachen können. Ceylan setzt auf epische Dimensionen, und so wie er das hier gemacht hat, ist das völlig folgerichtig und konsequent. Ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter, außergewöhnlicher Film, der seinen Preis in Cannes mal ganz zu Recht abgeräumt hat. Tja, was soll ich sagen – nochmals Danke an das Bielefelder Arthouse! (7.1.)