L’avenir (Alles was kommt) von Mia Hansen-Løve. Frankreich/BRD, 2016. Isabelle Huppert, André Marcon, Roman Kolinka, Édith Scob, Sarah Le Picard, Solal Forte, Elise Lhomeau, Lionel Dray, Grégoire Montana-Haroche, Lina Benzerti

   Ich geb’s zu, ich hatte fast schon den Glauben an das französische Kino aufgegeben. Was zum Geier ist bloß in die gefahren in den letzten zehn Jahren? Wer hat sie bloß auf den Trichter gebracht, plötzlich nur noch Wohlfühlbullshit produzieren zu wollen? Und vor allem, wo ist das bewährte französische Qualitätskino geblieben, das früher zumindest immer als angemessenes Gegengift fungiert hatte? Die Generation Rohmer, Resnais, Rivette, Godard, Chabrol, Sautet hat bekanntlich die Segel gestrichen, von Téchiné hört man kaum noch was, und sperrigere Leute wie Denis oder Assayas finden halt oft gar nicht den Weg in unsere Kinos. Die wenigen wirklich gehaltvollen französischen Streifen pro Jahr konnte ich auf einmal locker an einer Hand abzählen, ohne Spaß! Und jetzt brauch ich mich nur umzugucken in unseren beiden Bielefelder Programmkinos mit ihren insgesamt sechs Sälen, und ich sehe nicht weniger als drei französische Wohlfühlfilme, die zu gleicher Zeit laufen. (Update eine Woche später: Jetzt sind’s sage und schreibe FÜNF!!!) Gefällige, nette, warmherzige, sommerlich leichte Ware von der Stange, jedes Jahr im Dutzend billiger zu haben, alle nach dem gleichen Muster gestrickt, alle nach dem Motto, Probleme hab ich im Alltag schon genug, da will ich mich nicht auch noch im Kino mit sowas belasten müssen. Hat auch alles seine Berechtigung, keine Frage, aber in derartiger Übermacht müssen diese Machwerke doch nicht Jahr für Jahr unsere Säle blockieren, oder? Tja, scheinbar doch, ich oller Miesepeter bilde mal wieder die klare Minderheit, die Mehrzahl der Kinogänger braucht leichte Zerstreuung en gros, und so brummt das Geschäft bestens. Ich gönn’s unseren Kinomachern auch von Herzen, nur brauch ich zwischendurch mal einen Film, nur einen!, der mir meinen Glauben wiedergibt, es ist einfach so. Und „Alles was kommt“ ist genau so ein Film. Ich sehe ihn, ihn genieße ihn, ich weiß, ja, so will ich sie haben, weil das können die Franzosen wie keiner sonst.

   Und dabei sieht es so einfach aus, und es werden (zumindest oberflächlich betrachtet) gar nicht mal die großen Dinge des Lebens verhandelt, und es werden auch keine großen Dramen vom Zaun gebrochen oder ähnliches. Obwohl ich zu den besagten Dingen des Lebens eben eine andere Einstellung habe und glaube, dass sie gerade in einem Film wie diesem fest verankert sind, denn es muss ja gar nicht immer ums große Ganze gehen, eine Geschichte aus dem Alltag hat in meinen Augen fast immer viel mehr Relevanz.

   Nathalie ist Lehrerin für Philosophie, nimmt ihren Job extrem ernst und lässt sich auch von streikenden Aktivisten nicht bremsen, die sie und ihre Schüler vom Besuch der Philosophiestunde abhalten wollen. Sie hat eine zunehmend exzentrische und demente alte Mutter, die sie und die übrige Umgebung ständig mit ihren Kapriolen nervt. Sie hat einen Mann (auch Gelehrter natürlich) und zwei Kinder. Sie machen regelmäßig Ferien in der Bretagne, wo der Gatte ein Haus geerbt hat, um dessen Garten sie sich hingebungsvoll kümmert. Sie hat noch freundschaftlichen Kontakt zu ihrem ehemaligen Schüler Fabien. Sie ist fachlich angesehen, Arbeit an Lehrwerken mit, ihre Artikel sind bislang gefragt, ihr Sachverstand wird hoch geschätzt. Und nun werden wir Zeuge, wie dieses scheinbar nach allen Seiten abgesicherte, im Großen und Ganzen zufrieden gelebte bürgerliche Leben peu à peu in seine Einzelteile zerfällt, ihr buchstäblich unter den Händen davonrinnt. Die Kinder bauen ihr eigenes Leben auf, entfernen sich von ihr. Der Mann gesteht ihr unvermittelt, er habe seit längerer Zeit eine Beziehung zu einer anderen (natürlich jüngeren) Frau und werde sie, Nathalie, nun verlassen. Beide Kinder hatten das übrigens bereits gewusst, während sie selbst völlig ahnungslos war. Er zieht aus, damit ist natürlich auch das Ferienhaus in der Bretagne passé. Ihre aktuelle, liebgewonnene Klasse macht Abschlussprüfungen, fliegt davon. Die Mutter ruft die Feuerwehr einmal zuviel an, nun kommt sie ins Heim, wo sie nach kurzer Zeit nach einem Sturz verstirbt. Der Buchverlag bootet sie nach langjähriger Kooperation aus, weil sie sich mit den neuen „aggressiven“ Designs nicht anfreunden mag, die helfen sollen, ihre abstrakten Diskurse an den Kunden zu bringen, zumal man selbige Diskurse auch gleich mit abschaffen will. Und auf einmal ist Nathalie allein, frei auch, wie sie selbst sagt, aber vor allem allein. Sie besucht Fabian, der unten in den Alpen in purer Naturidylle in einer Bauernhaus-WG nach alternativen Lebensformen sucht. Weil sie sich dafür ein wenig zu alt fühlt, reist sie zurück nach Paris. Ihre Tochter bekommt ein Baby, sie ist kurzzeitig glückliche Großmutter und hat allemann zu Weihnachten bei sich versammelt (mit Ausnahme des Ehemannes versteht sich), doch wohin sie ihre Zukunft führen wird, ahnen wir am Ende nicht wirklich.

   Wie Mia Hansen-Løve dies erzählt, ist meisterhaft. Ganz klar und einfach, leicht spröde, vollkommen unpathetisch, in sehr ruhigem Tempo, und was Ausblick und Interpretation angeht, bemerkenswert offen. Wie soll man Nathalies Geschichte etikettieren? Eine Befreiung? Eine Emanzipation? Eine Selbstfindung? Einen Neubeginn? Oder eine Reise in die Einsamkeit? Von allem ist etwas dabei, alles wäre möglich, kann aber nicht für allein stehen, denn da sind einfach zu viele Facetten im Spiel. Da beginnt und endet zuallererst mit der Person Nathalies selbst, die zwar fast unentwegt im Bild zu sehen ist, die uns deshalb aber noch lange nicht nahe kommt und die zumindest in meinem Empfinden höchst ambivalent bleibt. Isabelle Huppert ist hier in ihrem Element, zeigt einmal mehr eine eindrucksvolle Darbietung, wobei die Rolle auch irgendwie für sie entworfen zu sein scheint. Ihre Nathalie ist eine Frau, die alles und jeden um sich herum auf Distanz hält, was vor allem in der eigenartigen Beziehung zu ihren Kindern deutlich wird. Ihre Philosophie, ihre Gedankenwelten scheinen ihr über alles zu gehen, im Urlaub noch sitzt sie an ihren Traktaten, auch bei Tisch wird räsoniert und gefachsimpelt, und was ihren Heinz angeht, so scheint man sich beidseitig eher für gegeben hinzunehmen als sich weiterhin umeinander zu bemühen. Ihre tief verletzte Empörung, als sie ihn zufällig mit der Jüngeren sieht, ist dann wieder ein ganz menschlicher, nachvollziehbarer Zug (plötzlich ist sie eine ganz normale sitzen gelassene Frau um die Fünfzig), ebenso wie ihr Ringen um Geduld im Umgang mit der Mutter, einer höchst kapriziösen, selbstsüchtigen alten Dame, die wiederum auch nur Hilferufe aus ihrer einsamen Wohnung loslässt. Nathalie ihrerseits wirkt häufig äußerst egozentrisch, lamentiert ständig darüber, was sie dieses und jenes kostet, lebt dabei ein materiell ziemlich komfortables Leben, und zieht Fabian als gleichwertigen Gesprächspartner ganz ungeniert vor, während sie mit Sohn und Tochter keine rechten Themen finden kann, keinerlei natürliche Nähe zu ihnen zeigt. Den idealistischen jungen Leuten aus Fabians WG kann sie sich aber auch nicht anschließen, sie bleibt auch hier auf Abstand, bleibt für sich, so wie es für sich längst eingerichtet hat. Wie unter solchen Umständen ihre Zukunft (also die aus dem französischen Originaltitel) aussehen könnte, vermag ich mir beim besten Willen nicht vorzustellen. Die letzten Bilder zeigen ihre beiden Kinder und ihren Schwiegersohn in lockerem, recht harmonischen Miteinander am Weihnachtstisch, während sie nebenan, in einem anderen Raum, von den anderen durch eine Wand getrennt, ihren Enkelsohn auf dem Arm beruhigt – eine sehr sinnbildliche Einstellung, dennoch keine aufdringliche Symbolik, sondern ganz still, ganz natürlich entwickelt.

   So entsteht ein Psychogramm, das bestenfalls als Annäherung taugt und das auf keinen Fall für sich in Anspruch nimmt, eine letztgültige, abgerundete, allseits empathische Charakterisierung bieten zu wollen. Denn das ist sicherlich nicht der Fall. Das Spannende an dem Film ist gerade seine Komplexität, die Vieldeutigkeit, die Offenheit, die durchaus auch unbequem werden kann, denn eigentlich fühl ich mich ja wohler, wenn ich mich klar positionieren kann – für oder gegen die Protagonistin. Das geht hier nicht, dazu sind Drehbuch und Regie von Mia Hansen-Løve und die Darstellung von Huppert viel zu gut, dazu sind auch die Nebenfiguren viel zu geschickt platziert und ausgeformt, denn obwohl Nathalie manchmal zu denken scheint, sie sei eine Insel, so ist sie das natürlich nicht, und auch die umfassende Kenntnis von Rousseau und Barthes und Horkheimer und wem auch immer enthebt sie nicht von dem Umstand, dass auch ihre Handlungen Konsequenzen für andere haben, die ihr nahe stehen, näher wohl, als sie oft selbst weiß.

 

   Wie gesagt, Filme wie diesen muss es einfach ab und zu geben, damit ich meine Franzosen weiter liebhaben kann, denn allein von pappigem Wohlfühlappeal werde ich nicht satt. Für heute aber geht’s mir erstmal gut, „L’avenir“ ist große Klasse, für meinen Geschmack der bisher beste Film von Hansen-Løve, und wenn ich pro Jahr vielleicht vier, fünf von diesem Format zu sehen kriege, dann will ich auch endlich Ruhe geben und mir leichten Herzens die nächste Provençekomödie reinziehen… (24.8.)