American Honey von Andrea Arnold. England/USA, 2016. Sasha Lane, Shia LaBeouf, Arielle Holmes, Riley Keough, McCaul Lombardi, Crystal B. Ice, Chad McKenzie Cox, Garry Howell, Kenneth Kory Tucker

   Seichtes, gefälliges, belangloses Filmwerk wäre so ungefähr das letzte, womit man den Namen Andrea Arnolds in Verbindung bringen würde. Im Gegenteil – spröde, sperrig, nicht leicht zugänglich, gleichwohl faszinierend sind alle drei Filme, die ich bisher von ihr gesehen habe, und mit „American Honey“ hat sie sicherlich noch mal einen draufgesetzt, auf jeden Fall quantitativ. Nicht, dass mir dieser Film besser gefiele als die vorherigen, aber in Sachen spröde und sperrig fällt halt deutlich ins Gewicht, dass das Ding fast drei Stunden Laufzeit hat, was nach einem langen Tag bis kurz vor Mitternacht ein echt hartes Stück Arbeit bedeutet. Aber eines, das sich absolut lohnt, soviel ist festzuhalten.

   Zusammenfassen könnte man diese epische Ballade vielleicht mit „Poor white trash on the road deep in the middle of nowhere“. Wir treffen Star, ein neunzehnjähriges Mädchen, das mit zwei kleinen Geschwistern im Müll nach Essbarem sucht und ein hygienisch sowie gesundheitlich extrem bedenkliches ehemals tiefgefrorenes Geflügelstück mit nach Hause nimmt, wo es dann allerdings eher als Spielzeug bzw. Hundefutter dient. Alles in Stars Leben ist, so scheint es,  Armut, Leere, Tristesse, doch in ihrem Blick sehen wir noch etwas anderes, weit jenseits der Resignation, das sich jäh entzündet, als sie auf dem Parkplatz eine bunte, lustige Truppe vorüberfahren sieht und diese Truppe kurz darauf im Supermarkt wiedertrifft. Einer von ihnen, allem Anschein nach eine Art Anführer, hat es ihr besonders angetan, er verkörpert etwas, wonach sie sich schon lange sehnt, und ohne lange zu überlegen gibt sie die beiden kleinen Geschwister bei Frau Mama ab, die natürlich extrem begeistert davon ist, und schließt sich den jungen Leuten an. Sie erfährt, dass es sich um eine aus den verschiedensten Staaten bunt zusammengewürfelte, ungefähr zehnköpfige Truppe handelt, die für eine Frau namens Crystal Zeitungsabos an der Tür vertickt und sich von Ort zu Ort fortbewegt, Oklahoma, Kansas, Nebraska undsoweiter, immer mitten drin im Nirgendwo, immer logiert man für einige Zeit im Motel, einmal sogar in einem richtig großen, tollen Haus, und grast die Viertel der Gutbetuchten ab, wobei Star überhaupt nicht warm wird mit den kalkulierten Verkaufstricks der Gruppe, während der von ihr bewunderte Jake als perfekter Frauenflüsterer glänzt und jede Menge Kohle scheffelt. Außerdem fungiert er als Anwerber mit vollem Körpereinsatz, den er bei Bedarf auch auf die Chefin ausweitet, die Star sofort als mögliches störendes Element ausmacht und sie im Auge behält. Star hat dennoch Erfolg, allerdings gehen ihre Manöver viel eher in Richtung Prostitution, bringen aber so viele Dollars ein, dass Crystal kein richtiges Argument findet, sie zu feuern. Einmal baggert sie drei Cowboyhutträger an, und ein anderes Mal ein paar Ölmänner, und immer hat sie ihr Ziel klar vor Augen: Genug Geld zusammenzukriegen, mit Jake abzuhauen und irgendwo ganz neu anfangen. Jake erwidert ihre Annäherungssignale zwar gelegentlich sehr heftig, doch eine richtige Beziehung wird nicht draus, und so bleibt am Ende offen, wie es mit Star weitergehen wird. Ein Blick in ihr Gesicht zeugt jedoch von ungebrochener Hoffnung und Sehnsucht.

   Arnolds Drehbuch lässt sich treiben wie die Protagonisten selbst, es gibt keine konventionelle Dramaturgie, sowieso hat der Film wenige Elemente des kommerziellen Mainstreamkinos an sich, gehört zweifelsfrei in die Independent-Ecke. Ein Roadmovie, wenn man so will ohne Start und Ziel, jedenfalls auf die Gruppe insgesamt bezogen. Star hat einen Ausgangspunkt, auf jeden Fall ein Ziel, und mag es noch so diffus sein, doch kommt sie diesem Ziel innerhalb dieser knapp drei Stunden bei Licht besehen nicht sehr viel näher. Wichtig ist: Sie hat sich bewegt, und das ist schon etwas Besonderes, denn die meisten in ihrer Lage bewegen sich eben nicht, haben nicht die Energie, nicht den Mut, nicht die Lebenslust, die Star eben hat. Im Bus der Truppe trifft sie auf annähernd Gleichaltrige, die sicherlich für eine bestimmte Generation stehen, vermutlich auch für einen Ausschnitt aus der US-Gesellschaft. Was sie verbindet, ist eine vermeintliche Freiheit, das Fehlen von Wurzeln und Verbindlichkeiten, kombiniert mit der Lust nach Party, Drogen, Sex, Abenteuer. Lebensgier und Egozentrik, wenn man so will. Arnold ist allerdings zu keiner Zeit daran interessiert, ein Urteil zu fällen, einen moralisierenden Blick auf diese Kids zu richten, und nicht zuletzt deshalb konfrontiert sie sie immer wieder mit Lebensentwürfen, die kaum erstrebens- oder nachahmenswerter sind. Aber auch diese Leute werden nicht an den Pranger gestellt, nicht sie streng gläubige Mom, die ihrer Tochter am liebsten die Popmusik austreiben würde, nicht sie Cowboyhutträger, die sich was Knackiges für eine Poolparty versprechen, auch nicht der Ölmann, der sich von Star im Auto einen runterholen lässt, korrekt dafür bezahlt und ganz richtig darauf hinweist, dass die meisten anderen sie abgefüllt und einfach vergewaltigt hätten. Sie nimmt all diese Erfahrungen mit einer ziemlichen Coolness, vermutlich weil sie weitaus Schlimmeres hinter sich hat (sprich Elternhaus) und nicht die Angst hat, noch tiefer zu sinken. Wie die anderen aus der Gruppe bewegt sie sich losgelöst in einer Art luftleerem Raum, und die Art, wie sie unentwegt von Stadt zu Stadt reisen, unterstreicht den Eindruck, dass sie nirgendwo andocken, nirgendwo zuhause sein wollen. Dabei sind die Träume, die einige von ihnen äußern, ähnlich bürgerlich und gewöhnlich wie die der meisten anderen, und stehen in einem skurrilen Widerspruch zu ihrem gegenwärtigen Lebensstil. Am gradlinigsten ist Crystal: Was allein zählt, ist das Geld, sonst nichts, und es spielt keine Rolle, wie man zu Geld kommt, und nur wer darin erfolgreich und gut ist, hat eine Chance auf ihren Respekt. Sie brieft ihre Verkäufer bei jedem Szenenwechsel, setzt ihnen sämtliche denkbaren sozialen Klischees vor, alles nur im Hinblick auf möglichst viele erfolgreiche Abschlüsse. Entsprechend isoliert ist die Gruppe auch, selten oder nie sehen wir sie ernsthaft Kontakt zur Umwelt aufnehmen, jedenfalls nicht aus nicht-kommerziellen Motiven.

   Der Stil dieses Films lässt mich nicht vermuten, Arnold strebe irgendein repräsentatives Gesellschaftsporträt an oder beanspruche Allgemeingültigkeit für ihre Geschichte. Doch gerade in dem sie als Regisseurin so zurückhaltend, auf Beobachtung und Begleitung beschränkt bleibt, entwickelt „American Honey“ eine beträchtliche Intensität und Eindringlichkeit. Selbst die entschlossensten Indie-Filmer des Landes hätten wohl kaum den Nerv aufgebracht, ein so durchgehend ernüchterndes, karges Bild zu zeichnen, das eben nicht aufgrund spekulativer Klischees entsteht, sondern eher durch einen diskreten aber genauen, distanzierten Blick auf die Verhältnisse. Das ewige Streben nach Glück und die ewige Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit werden sozusagen auf den Boden der Tatsachen im 21. Jahrhundert geholt und just jener Euphorie entkleidet, die diese beiden häufig begleitet hat. Als Triebfeder allen menschlichen Strebens oder so. Hier wirkt alles unbewusst, irgendwie ferngesteuert, sogar der „Spaß“, den die Kids zusammen haben, ist für meine Wahrnehmung ein Spaß in Anführungszeichen. Die tristen Motive, die endlose Trostlosigkeit der Landschaften, Straßen, urbanen und suburbanen Besiedlungen tun ihr Übriges.

 

   Andrea Arnold hat in ihrer bewährt schroffen, unbehauenen Bildersprache genau den passenden Ton gefunden, hat tolle, authentische Darsteller für ihre Rollen gefunden, wie man liest, manche direkt von der Straße geholt, auch die Profis unter ihnen reihen sich bruchlos ein. Der Soundtrack ist toll, von der euphorischen Performance zum Rihanna-Song im Supermarkt über die rotzigen Raps unterwegs bis hin zu kargem Indierock und natürlich melancholischem Liedgut von Mr. Springsteen, der hier auf gar keinen Fall fehlen durfte, denn Milieu und Personal scheinen direkt aus vielen seiner Songs entlehnt zu sein, nur wirkt Arnolds Porträt Amerikas deutlich weniger mythisch und romantisch. Ein anstrengendes, aber durch und durch lohnendes, spannendes Kinoerlebnis, das ich in meiner momentanen Verfassung wie gesagt gern zwei, drei Stunden früher am Tag genossen hätte, aber ich konnte mich zwischendrin mehrmals versichern, dass auch mein ewiger Mitstreiter mit dem Schlaf zu ringen hatte. Bei mir jedenfalls hatte das ganz und gar nichts mit dem Film zu tun… (18.10.)