Anomalisa von Charlie Kaufman und Duke Johnson. USA, 2015

   Eine einfache Geschichte: Ein Mann auf Vortragsreise von L.A. nach Cincinnati. Flug, Landung, Taxifahrt zum Hotel, einchecken, telefonieren nach Hause, rumhocken im Hotelzimmer, noch ein Drink an der Bar. Dann eher durch Zufall zwei nette Damen kennen lernen, die anderntags auch den Vortrag besuchen werden, noch ein Drink an der Bar, diesmal zu dritt, dann wieder hoch, kurz entschlossen die eine aussortieren, die andere mit aufs Zimmer nehmen, ein bisschen quatschen, dann Sex, zusammen einschlafen, zusammen aufwachen, im Überschwang gemeinsame Zukunftspläne, Trennung von der Frau undsoweiter, totale Verwirrung der Gefühle, der Vortrag geht folgerichtig ziemlich in die Hose, dann wieder nach Hause zu Frau und Kind, die Überraschungsparty wacker durchgestanden, letztlich aber den Absprung dann doch nicht gewagt, sondern der Liebschaft aus dem Hotel nur einen netten Brief mit nach Hause gegeben.

   Eine einfache Geschichte, gleichermaßen eine klassische amerikanische Short Story, die ich mir schon während des Guckens fast Satz für Satz vorstellen konnte, die große, von der deutschen Literatur bis heute noch immer verschmähte Kunst, mit ganz einfachen Mitteln scheinbar ganz banale Dinge so zu erzählen, dass man ihnen dennoch nicht nur gerne, sondern gebannt, berührt, folgt. Wer will, bleibt beim Lesen an der Oberfläche, wer aber möchte, kann auch in die Tiefe gehen, denn hinter der Alltäglichkeit liegt immer noch mehr. So auch hier: Das Porträt eines modernen Mannes mittleren Alters, Familienvater, im Beruf anerkannt und erfolgreich, ein gebildeter, äußerlich durchschnittlicher Mann, der sich in Zuständen zunehmender Entfremdung wiederfindet. Er kann kaum noch auf andere Menschen reagieren, wird einsilbig, fast unhöflich, scheint Gesellschaft als lästig zu empfinden, kommt mit dem Alleinsein allerdings auch nicht besser zurecht, sehnt sich nach Veränderung, nach Aufbruch, hat letztlich aber nicht den Mut, die Gelegenheit zu nutzen, auch wenn er und das Mädchen aus dem Hotel vielleicht nicht hundertprozentig kompatibel sind. Dennoch forciert Michael die Situation ganz bewusst, er will mit Lisa ins Bett gehen, vielleicht will er einfach auch mal wieder ein gutes Sexerlebnis haben, denn das Telefonat mit seiner Frau klang arg distanziert und nicht nach gut funktionierender Ehe. Am nächsten Morgen dann zunächst die hochfliegenden, rauschhaften Pläne, dann die erste Ernüchterung, als er sich über ihre Essgewohnheiten mokiert, und man schon ahnt, dass auch diese Beziehung viel Konfliktpotential birgt. Michael wirkt abwechselnd einfühlsam, geduldig, verständnisvoll, dann wieder pedantisch, bevormundend, ablehnend, und sowohl seine Show während des Vortrags als auch sein finaler Auftritt daheim bei der Familie, legen nahe, dass er im Grunde nur ein ganz gewöhnlicher Egozentriker ist, möglicherweise gefangen in einer midlife crisis. Michael wird dafür keineswegs verurteilt, die Haltung des Films ist sehr ruhig, sehr präzise, ein wenig auf Abstand, mit klarem Blick, und keine der beteiligten Figuren erfährt eine besonders positive oder negative Wertung – alles ganz gewöhnliche Menschen. Oder eben keine Menschen, sondern Figuren, denn dies ist kein Realfilm sondern ein Stop-Motion-Ding, ein komplett animierter Film, der allerdings seine Technik nicht benutzt, um außergewöhnliche Tricks oder Bilder vorzuführen, sondern der ganz im Gegenteil bewusst realistisch und einfach erzählt. Stimmungen sind wichtig, genrehafte Motive, die besonders im American Way of Life fest verwurzelt sind. Die Besonderheiten finden eher auf der akustischen Ebene statt und sorgen für die Irritationen, die uns eine kleine Vorstellung von Michaels verstörtem Innenleben geben. So sprechen beispielsweise fast alle Figuren, egal ob Männlein oder Weiblein, mit der gleichen Stimme (einer männlichen), nur Michael und Lisa nicht, sie sind herausgehoben aus der Menge sozusagen, ihre Gespräche zeichnet etwas Besonderes aus, das mit anderen nicht zustande kommt. Hinter all dem vielen Small Talk, der hier auffällig detailliert vorkommt, steckt die große Einsamkeit des Einzelnen, doch irgendwie empfinden wir es als angenehmer, diese Einsamkeit und unsere Emotionen diskret zu verbergen und reagieren verstört bis peinlich berührt, wenn sich ein Mensch doch mal offenbart, so wie Michael das während seines Vortrags ganz unerwartet tut, ein Auftritt, in dem sich Frust, Selbstmitleid und Wut mischen und mit dem er sein Publikum überfordert und vor den Kopf stößt. Genauso überfordert er Lisa mit seinem stürmischen Angebot, einfach alles hinter sich zu lassen und mit ihm neu anzufangen. Sie reagiert überrascht, aber durchaus zustimmend und geht während seiner das Frühstück begleitenden Maßregelungen reflexartig in die Defensive, entschuldigt sich dauernd, und wir haben hier die Blaupause ihrer anzunehmenden weiteren Zeit.

 

   Alles in allem ein wunderbar gestalteter Film, melancholisch, ironisch, nahe am Leben, mit immer wieder eingebauten überraschenden Momenten, die uns manchmal erheitern und uns manchmal ein wenig nach Luft schnappen lassen. Die Künstlichkeit der Figuren wird betont, und sie steht in frappierendem Kontrast zu dem höchst realitätsnahen Kontext der Story. Ein zugleich völlig neuer und doch schon hundertmal dagewesener Blick auf unsere moderne Welt und die Menschen darin, paradoxerweise ein höchst menschlich wirkender Film, der emotional viel authentischer wirkt als viele Realfilme die Gefühle nur behaupten, sie aber nicht darstellen können.  (21.1.)