Captain Fantastic von Matt Ross. USA, 2016. Viggo Mortensen, George MacKay, Annalise Basso, Samantha Isler, Nicholas Hamilton, Shree Crooks, Charlie Shotwell, Frank Langella, Kathryn Hahn, Steve Zahn, Ann Dowd, Erin Moriarty

   Ben steht seinem wutentbrannten Schwiegervater Jack gegenüber. Ben hat soeben seine Frau Leslie verloren, Jack seine einzige Tochter. Sie hat seit vielen Jahren an einer schweren bipolaren Störung mit manisch-depressiven Phasen gelitten und hat sich nun die Pulsadern aufgeschnitten. Ben und Leslie waren nach der Geburt ihres ersten Sohnes in die abgeschiedenen Wälder Washingtons gezogen, um dort in völliger Abgeschiedenheit ein Leben nach streng philosophischen Grundsätzen und abseits des gängigen Konsumzwangs zu leben. Ben behauptete immer, die beiden hätten dies gemeinsam entschieden, doch sicherlich war er die treibende Kraft,  vor allem in der Hoffnung, Leslie auf diese Weise helfen zu können. Jack hingegen glaubt, Ben habe seine Tochter auf dem Gewissen. Er ist auch davon überzeugt, dass Ben seine sechs Kinder misshandelt, wenn er sie zum täglichen Überlebenstraining antreibt und in Kauf nimmt, dass sie sich alle möglichen Blessuren zuziehen. Ben steht diesen Anwürfen so hilflos gegenüber wie der Krankheit seiner Frau. Ihr Tod hat die Familie aus der Bahn geworfen. Sie haben sich im großen Bus auf Weg bis runter nach New Mexiko gemacht, um eine herkömmliche Erdbestattung zu verhindern, zumal Leslie per Testament verfügt hat, dass sie als überzeugte Buddhistin eingeäschert und wortwörtlich im Klo heruntergespült werden möchte. Auch hier setzt sich Jack zunächst durch, droht zudem mit Polizei und Entzug des Sorgerechts undsoweiter. Für kurze Zeit 0gsieht es tatsächlich so aus, als würde Ben die Kinder verlieren, zumal Bo, der Älteste sich heimlich bei allen möglichen US-Colleges beworben hat und der nächstjüngere Sohn ihn offen anfeindet. Doch dann zeigt sich, wie stark der Zusammenhalt der Familie wirklich ist.

   Ein Lehrstück (ohne den dazugehörigen Zeigefinger wohlgemerkt!) zum Thema Lebensentwürfe. Richtig oder falsch? Naiv oder weise? Selbstlos oder egoistisch? Diese Frage werden sich die meisten Eltern (jedenfalls die, die es ernst meinen) häufiger in ihrer Karriere stellen: Ist das jetzt wirklich das Beste für die Kinder? Wie können wir sicher sein? Wer entscheidet, wer übernimmt die Verantwortung und was sind die möglichen Folgen? Gerade die letztgenannte Frage ist natürlich kaum zu beantworten, und so wie die meisten vor und nach ihnen werden sich auch Ben und Leslie in jüngerem Alter kaum Gedanken darüber gemacht haben. Ihre Entscheidung, ihre Verantwortung, und Ben verhält sich insoweit sehr vorbildlich, als er zu keinem Zeitpunkt versucht, diese Verantwortung auf irgendjemanden abzuwälzen. Er versucht auch sehr lange nicht, seinen Standpunkt einmal zu hinterfragen, er ist allzu fest davon überzeugt, dass sein Weg, dass ihr Weg der richtige ist. Ein strenger Drill von morgens bis abends, feste Abläufe, feste Aufgabenzuteilung, ein Kollektiv, das nur durch völlige Disziplin funktioniert. Geistiges und körperliches Training in perfekter Einheit, Leben in und mit der Natur, alles wird in fast schon gnadenloser Offenheit erklärt, diskutiert, durchdacht, reflektiert, es gibt keine sinnlosen Rituale, denen man nur folgt, weil es alle anderen tun und weil es halt Brauch ist. Statt Weihnachten wird dann eben der Noam-Chomsky-Tag gefeiert, und die Kinder erhalten Messer, Pfeil und Bogen oder andere Jagdwaffen zum Geschenk. Institutionen wird grundlegend misstraut, das faschistische Establishment wird so weit wie möglich gemieden, die monströsen Konsumtempel sowieso. Die Eltern unterrichten die Kinder selbst, öffentliche Schulen werden nicht besucht, und so kommt es, dass selbst die jüngste Tochter einen erschöpfenden Vortrag zur Bill of Rights aus dem Ärmel schüttelt, während ihre beiden deutlich älteren Cousins, die jeweils die High School besuchen, nicht mal entfernt wissen, was das ist. In vielem, so kommt es uns beim Zuschauen vor, hat Ben absolut recht, er erzieht seine Kinder zu gebildeten, selbständigen, starken Persönlichkeiten, die für ein Leben draußen in der Wildnis hundertprozentig gerüstet sind. Nur eben nicht für das andere, das vermeintlich „wahre“ Leben, und da liegt der Hund begraben. Ben und Leslie waren sich in Wahrheit nämlich gar nicht so einig, und Leslie hat immer wieder versucht, ihren Kindern auch anderes zu ermöglichen, speziell Bo, dem sie hilft, sich bei den Colleges zu bewerben, so dass Ben es nicht mitkriegt, denn der hätte sofort interveniert. Ben ist der dogmatischere der beiden Ehepartner, und ein Dogma lässt selten Spielraum, und genau das ist es, was das System fast zum Kollaps bringt. Erst als Ben ein wenig nachgibt, als er den Bart abrasiert zum Zeichen, dass er bereit ist, sich zu bewegen und vor allem die Kinder ein wenig freizulassen, ergibt sich eine Perspektive. Bo, der zuvor völlig überfordert war, als ein Mädel ihn mal angeblinkt hat, fliegt erstmal nach Namibia, um sowas wie Lebenserfahrung zu sammeln, und die anderen besuchen fortan „richtige“ Schulen, haben somit zumindest die Chance, sich für ein „ganz normales“ Leben zu entscheiden. Wie wir zu diesem ganz normalen Leben stehen, ist wieder eine andere Frage – der grimmig autoritäre Jack scheint uns mit seinem konservativen, strikt materialistischen Zugang ebenso wenig Identifikationsfigur wie Bens chronisch verbissene Schwester oder ihre beiden Söhne, deren Horizont unwesentlich über die herkömmlichen Ballerspiele hinausgeht.

   Doch einseitige Wertungen fallen hier schwer, sind wohl auch nicht erwünscht. Ich sympatisiere grundsätzlich durchaus mit Ben, doch erscheint sein Verhalten häufig recht diktatorisch und auf eine Art ebenso engstirnig. Er genießt seine stillen Triumphe, wenn eben die jüngste die beiden depperten Cousins vorführt, doch muss er auch einsehen, dass seine Kinder in vielen Bereichen kaum überlebensfähig wären, weil sie nicht gelernt haben, sich irgendwie zu integrieren, sie können zum Teil noch nicht mal richtig mit Leuten sprechen - siehe Bo und die Blondine, der er gleich auf Knien einen Heiratsantrag à la Victor Hugo macht. Ben ist sicher, das richtige zu tun und vergisst dabei, seinen Kindern, erst recht den erwachsen gewordenen wie Bo, eine eigene Entscheidung zuzubilligen. So entwickelt sich neben zahlreichen schönen oder auch sehr komischen Momenten ein Familiendrama, das hart am Rande der Katastrophe entlangsegelt. Regisseur Matt Ross ist es großartig gelungen, das Komische und das Ernste so zu integrieren, dass beide Elemente zum Zuge kommen und dass sich die Gewichtung schön langsam verschiebt, als die Geschichte ernster zu werden beginnt. Die ist keine leichte Geschichte, sie will auch nicht so verstanden werden, sie kriegt zwar am Schluss die Kurve, doch zuvor wird uns schon sehr deutlich, wie schnell die eigentlich besten Absichten der Eltern fatal am Ziel vorbeigehen können und vor allem auf Kosten der Kinder. Schauspielerisch ist das sehr eindrucksvoll gelöst, die sechs Kinder haben ausgeprägte, tolle Gesichter, und Viggo Mortensen ist mit seiner zugleich starken und sensiblen Persönlichkeit ideal in seiner Rolle. Besonders gut gefallen haben mir seine Begegnungen mit Frank Langella, der ja sowieso einer meiner Lieblingsschauspieler aus den USA ist.

 

   Ein sehr gefühlvoller, intensiver, auch schöner Film, der mich irgendwo schon angesprochen hat, obwohl mir ein Lebensentwurf wie der von Ben und Leslie recht fern läge, doch die Art und Weise, wie wirklich grundlegende und wichtige Fragen und Themen hier verhandelt werden, hat mich schon beeindruckt. US-Indiekino vom feinsten. (31.8.)