Colonia Dignidad – es gibt kein Zurück von Florian Gallenberger. BRD/Luxemburg/ Frankreich, 2015. Emma Watson, Daniel Brühl, Mikael Nykvist, Richenda Carey, Vicky Kriebs, Jeanne Werner, Johannes Allmayer, August Zirner, Martin Wuttke
Seit ich Ende der 80er Gero Gemballas TV-Dokumentation über die Colonia Dignidad sah, hat mich das Thema eigentlich nie mehr so richtig verlassen. Eine Geschichte so unfassbar und grotesk, dass kein noch so tollkühner oder zugedröhnter Autor sie hätte erfinden können, eine Geschichte so abgründig und politisch heikel, wie sie nur das wirkliche Leben schreiben kann. Ich weiß noch genau, wie ich damals vor der Glotze hockte – fassungslos, ungläubig, und wie ich gleich loszog und mir Gemballas Buch dazu beschaffte, um all die irrwitzigen Fakten und Details noch einmal vor Augen geführt zu bekommen. Das hier ist kein Fiebertraum eines Berufsparanoikers, das ist tatsächlich eine wahre Geschichte aus dem 20. Jahrhundert, und natürlich finde ich es erstmal klasse, dass es jetzt einen richtigen Kinofilm dazu gibt. Ob ich auch klasse finde, was der Herr Gallenberger aus dem Thema gemacht hat, ist eine andere Frage, und um die geht es hier.
Um es vorweg zu nehmen – der Herr Gallenberger hat für meinen Geschmack sein Thema zu einem nicht geringen Teil verschenkt, und das hat mich geärgert (ist aber auch ´ne Kunst, klar…). Er hat sein Augenmerk ganz ungeniert auf den internationalen, sprich den englischsprachigen Markt gerichtet, hat den Film ärgerlicherweise auch in englischer Sprache gedreht (womit bereits ein wichtiges Detail entschärft wäre), und hat rund um die Colonia eine Story gezimmert, die am besten mit Kolportage beschrieben wäre. Schicke Stewardess liebt schicken Linksaktivisten, das schicke Paar wird in Santiago vom Militärputsch überrascht, der Geliebte wird verschleppt und landet im Folterkeller der Colonia. Seine Genossen geben ihn augenblicklich auf und konzentrieren sich lieber darauf, in den Untergrund zu gehen – feige linke Bratzen, was zu beweisen war. Unsere wackere Stewardess indes will sich mit solch schnöder Egozentrik nicht abfinden, holt sich bei Amnesty ein paar Informationen und reist in den Süden, um sich als angebliche Novizin in die Sekte einschleusen zu lassen. Das Unterfangen gelingt, doch unsere wackere Stewardess macht Schlimmes durch, lernt den wahnsinnigen Terror Paul Schäfers und seiner Schergen am eigenen Leib kennen, muss monatelang in dem Horrorlager ausharren, bis sich endlich die Chance zur Flucht bietet. Ihr Geliebter unterdessen konnte nur überleben, weil er nach den Elektroschocks den Idioten mimte und nicht mehr für voll genommen wurde. Nachdem sie entkommen sind, wenden sich die beiden vertrauensvoll an die deutsche Botschaft in Santiago – großer Fehler, denn der Botschafter ist ein prima Kumpel vom Horrorschäfer, und fast gelingt es ihnen noch, unsere beiden Helden zu stoppen, doch die sitzen schon im Flugzeug, und der Pilot ist wiederum ein ganz feiner Kumpel unserer schicken Stewardess und lässt sich von so einem lächerlichen Startverbot nicht einschüchtern…
Ich übertreibe bei dieser Inhaltsangabe tatsächlich nicht – die Story ist an sich schon randvoll mit Klischees und Plattheiten, und dieser ungute Ansatz wird nahtlos bei der Personenzeichnung fortgeführt. Unsere smarten, glatten Helden treffen in der Colonia auf ein Figurenarsenal, das zeitweise irgendeinem grässlich billigen Gruselstreifen entlaufen zu sein scheint, und ich hab mich zwischendurch des Öfteren gefragt, ob der Herr Gallenberger das wirklich ernst meint. Der bedauernswerte Mikael Nykvist wird zu schauerlichstem Chargieren genötigt, sodass jeder klare Blick auf die Person Paul Schäfers, seine Doktrin und seine Wirkungsweise nahezu völlig verstellt wird, und ihm zur Seite steht eine gewisse Frau Gisela, die eigentlich nur Norman Bates‘ Mama sein kann und kein realer Mensch. Eine Mumie mit dicker Brille, dickem Dutt und grotesk starrer Mimik, eine Karikatur, aber keine ernst zu nehmende Person. Die üblichen Colonia-Insassen werden ähnlich flüchtig und lieblos gezeichnet, wie die Linksaktivisten zuvor in Santiago, und bis hin zu unseren beiden schicken Helden sehe ich nirgendwo ein Bemühen um differenzierte, wahrhaftige Charaktere. Emma Watson und Daniel Brühl sind leider sehr unterfordert in ihren oberflächlichen Rollen, und obwohl ich beileibe gar nichts gegen die Emma habe, ganz im Gegenteil, sehe ich sie hier fehl am Platze, eine unübersehbare Konzession an den großen Weltmarkt, aber bitte nicht in einem solchen Film. Ach ja, und die Atmosphäre der frühen 70er wird ganz originell im Soundtrack widergespiegelt (hat vor dem Herrn Gallenberger noch nie ein Regisseur versucht!) – dort ertönen nämlich hintereinander, aber eigentlich ohne jeden Sinn und Zusammenhang Bill Withers, Janis Joplin und Santana, damit wir Dummkekse gleich wissen, in welcher Zeit wir uns befinden.
Spannend ist „Colonia Dignidad“ auf eine sehr konventionelle Weise durchaus, die Dramaturgie spult ihr sattsam bekanntes Repertoire routiniert und gekonnt ab, es gibt zwischendurch auch einige mächtig fröstelige Momente, die uns schon ansatzweise zeigen, welch unvorstellbarer Terror in dieser deutschen Mustersiedlung herrschte, die uns aber zugleich andeuten, was wirklich möglich gewesen wäre. Der Herr Gallenberger operiert mit den Mitteln eines banalen Unterhaltungsthrillers, und damit könnte ich vermutlich leben, wenn um irgendwas oder am besten gar nix ginge – aber hier geht es um ein eminentes Kapitel jüngerer deutsch-südamerikanischer Geschichte. Es geht um einen Laienprediger, der in der BRD Schiffbruch erlitt, als Jungenschänder verfolgt wurde, sich 1961 mit seinen Getreuen nach Südchile absetzte und dort mit drastischster Autorität eine urdeutsche, komplett von der Außenwelt abgeschirmte Siedlung aufbaute, die nicht nur autark war, die nach typische deutschem Muster extrem effektiv, fleißig und produktiv war, sondern der es auch gelang, an das faschistische Pinochetregime anzudocken und höchst lukrative Geschäfte mit ihm abzuwickeln. Waffen wurden über die Colonia importiert, Giftgas, Gefangene der Diktatur wurden hier verhört, gefoltert, getötet, viele von ihnen über viele Jahre. Der Diktator kam ab und zu vorbei, wurde fähnchenschwenkend empfangen von trachtentragenden Jubeldeutschen und Schuhplattlern, und in den ausgedehnten Katakomben unter den Schlafsälen gingen die Folterknechte ihrem grauenhaften Handwerk nach. Und all dies war über den unfassbaren Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten nur möglich, weil die Colonia massiv protegiert wurde – zum einen natürlich von der faschistischen Diktatur Pinochets, die über ihr Ende hinaus so wirkungsvoll bleib, dass die zarten demokratischen Kräfte weiterhin nicht an Schäfer herankamen, zum anderen vor allem von der deutschen Regierung selbst, in Gestalt der Botschaft vor Ort wie auch der Politiker in der BRD, die entweder nicht sehen wollten, was sich dort unten abspielte, oder die die Colonia durchaus für ein vorbildhaftes Projekt auslandsdeutscher Aktivitäten hielten, wie beispielsweise etlicher prominente Mitglieder der CSU, die gern auch mal vor Ort waren und sich höchstpersönlich davon überzeugten, dass beim Schäfer Paul alles zum Besten stand. Auch hier bleibt der Film leider ziemlich lieb – zwar spricht er die Kumpanei des Botschafters mit Schäfer an und thematisiert die Verstrickung der deutschen Botschaft in Santiago mit den verbrecherischen Machenschaften der Sekte, doch bleibt die deutsche Regierung gnädig außen vor, ihr jahrzehntelanges Desinteresse an wirklicher Aufklärung, ihr Schweigen, ihre Weigerung, mit den demokratischen chilenischen Behörde zu kooperieren, all das also, was den Skandal erst richtige Kreise ziehen ließ. So bleibt auch diese Möglichkeit, wenigstens einen im Ansatz politisch argumentierenden, das heißt auch unbequemen Film zu machen, ungenutzt, klar geht’s gegen Pinochet und seine Folterschweine, klar kriegt der deutsche Botschafter was mit, aber das ist halt so lang her und hat mit uns heute gar nix mehr zu tun. Das geschlagene fünfundvierzig Jahre vergehen mussten, bis man Paul Schäfer endlich verknacken konnte, ist eine bittere Tatsache, für die es eine Reihe von Erklärungen gibt. Der Herr Gallenberger versucht sich nicht mal im Ansatz daran, und dabei liegen die Fakten vor ihm auf dem silbernen Tablett. Das hat ihn offenbar nicht interessiert, genauso wenig wie es ihn interessiert hat, ein wenig tiefer in die psychologischen Mechanismen einzudringen, die Schäfer zur Zementierung seiner Gewaltherrschaft anwandte, und genauso wenig wie es ihn interessiert hat, wenigstens den Versuch zu unternehmen, dieses Phänomen Colonia Dignidad von innen zu beleuchten, diese Mischung aus religiösem Fanatismus, Missbrauch, Angst, Terror, psychischer Abhängigkeit und eiskaltem Geschäftssinn. Zeugenaussagen gibt es mittlerweile genug dazu. Ich reite nur deswegen so darauf herum, weil ich mehrfach gelesen habe, dass der Herr Gallenberger jahrelang so intensiv recherchiert haben soll. Das überrascht mich schon ein wenig, denn was ich in seinem Film sehe, erzählt mir im Vergleich zu Gemballas Doku von vor fast dreißig Jahren absolut nichts Neues. Was hat denn der Herr Gallenberger mit seinen Recherchen angefangen, wo sind die Fakten geblieben, die er angeblich so emsig gesammelt hat? Vielleicht lauert ja irgendwo noch ein Director’s Cut, in dem er alles Versäumte nachholt…
Das ist abschließend das Stichwort: Versäumte Gelegenheiten sind immer bedauerlich, und angesichts einer solch starken Geschichte umso mehr. Mehr als ein spannender Thriller mit ein bisschen Zeitkolorit ist kaum dabei herausgekommen, und das ist auf jeden Fall viel, viel zu wenig! (18.2.)