Médecin de campagne (Der Landarzt von Chaussy) von Thomas Litti. Frankreich, 2016. François Cluzet, Marianne Denicourt, Isabelle Sadoyan, Félix Moati, Christophe Odent

   Okay, ja, ich geb’s zu – der Wohlfühlschleimfaktor dieses Films ist bei weitem nicht so hoch wie ich befürchtete, weshalb ich ihn auch mied, bis mein ewiger Mitstreiter anfragte und ich dachte, na gut, ich mecker ja genug über die Franzosen und ihre neue Seichtigkeit, dann kann ich mir zwischendurch ruhig mal ein Exemplar reinziehen, um weiter mitreden zu können. Aber wie gesagt, Regisseur Thomas Litti gelingt es durchgehend ziemlich erfolgreich, sich abseits der allzu gefälligen, ausgelatschten Pfade zu bewegen und seine Geschichte zu erzählen, ohne sich allzu drastisch beim Zuschauer anbiedern zu müssen. Das muss heutzutage schon hervorgehoben werden, so weit ist es mittlerweile gekommen.

   Jean-Pierre ist Landarzt aus Passion, einer, der sein Dorf und die Leute kennt, der mit Hunden, Kühen, Gänsen, Bauern und anderem Getier umzugehen weiß, der weiß, wie er mit den Leuten reden, wie er sie nehmen muss, der vor allem weiß, dass ein Gespräch zumeist mehr bewirkt als Pillen. Eines Tages kriegt er selbst die schlimme Diagnose -  Hirntumor, Chemo, Bestrahlungen, der ganze Scheiß, und er kriegt auch gesagt, dass er am besten schon mal eine Vertretung einarbeitet, für alle Fälle. Eigentlich hat er das absolut nicht vor, doch eines Tages steht Nathalie vor ihm, frisch aus dem Anerkennungsjahr, doch mit langer Vorerfahrung als Krankenschwester. Jean-Pierre, geschieden und allein lebend, nicht grad ein Kontaktfreak, reagiert zunächst wenig erfreut, nimmt Nathalie notgedrungen mit, schickt sie in alle möglichen peinlichen Situationen, um ihr gründlich zu verstehen zu geben, dass sie las Stadtpflanze kaum geeignet ist für den Job auf dem Lande, doch natürlich ist Nathalie viel zäher als erwartet, sie beißt sich durch, und gerade las Jean-Pierre hauptsächlich mit seiner eigenen Genesung beschäftigt ist, bewährt sie sich doch als annähernd gleichwertige Vertretung. Wegen eines todkranken Patienten, den sie gegen seine ausdrückliche Anweisung ins Krankenhaus einweist, geraten sie sich nochmal tüchtig in die Haare, doch am Schluss ist alles auf gutem Wege: Der Tumor scheint besiegt, und Jean-Pierre und Nathalie können sich freundlich, vielleicht sogar mehr als nur freundlich, anlächeln.

 

   Michel Deville hat vor mehr als fünfzehn Jahren mal einen Film über einen Landarzt gedreht, einen sehr guten übrigens, und gerade weil ich den noch in so guter Erinnerung hatte, wollte ich mich an den Kollegen aus Chaussy nicht so richtig rantrauen. Viele Passagen aus dem neueren Film erinnern jedoch an den alten, beschäftigen sich eingehend mit dem Leben eines Arztes auf dem Lande, seine ganz besonderen Rolle in der kleinen Gemeinde, irgendwo zwischen Beichtvater, Psychiater, Lebensberater, väterlichem Freund und so weiter. Erst wenn man bereit ist, all diese Rollen bei Bedarf anzunehmen und auch mit der Autorität umzugehen, die man bei den Dorfbewohnern genießt, ist man richtig für den Landarzt. Nathalie geht das ganze anfangs natürlich noch viel zu professionell an, will sofort therapieren, statt erstmal zuzuhören, und Jean-Pierre bringt ihr das relativ schnell bei. Sie lernt, Symptome eher im psychologischen Bereich anzusiedeln, lästige Gänse in die Flucht zu treten, und die ganz besondere Sozialstruktur der ländlichen Gemeinde zu verstehen. Litti schildert Begegnungen, Sprechstunden, Noteinsätze mit Humor und viel Gefühl, und da er selbst praktizierender Mediziner ist, weiß er natürlich genau, wovon er spricht. Gerade der oben erwähnten Episode mit dem alten Herrn, der nur den einen Wunsch hat, nämlich in Frieden zuhause sterben zu dürfen, kommt dieses Wissen sehr zugute, zumal Litti bei alledem angenehm dezent und unprätentiös zu Werke geht und jeglichen wohlfeilen Kitsch sorgsam vermeidet. Allerdings hat er sich thematisch eine Menge vorgenommen, und für meinen Geschmack ist das ein bisschen viel für einen einzigen Film, mit dem Ergebnis, dass mir zwischendurch nicht immer klar war, worum genau es nun eigentlich gehen soll. Jean-Pierres Alltag als Landarzt. Sein Tumor und was daraus folgt. Die holprige Beziehung zu Nathalie in allen Stadien bis hin zur vorsichtigen Freundschaft. Die verschiedenen Geschichten vom Dorf, vor allem eben die des alten sterbenden Mannes. Es fehlt teilweise der Fokus, die Dramaturgie zerfällt häufig ins Episodische, was mich an sich nicht stört, was mir persönlich nur ein wenig die emotionale Beteiligung erschwert. Dennoch hat mir der Film gut gefallen, er ist sehr atmosphärisch, drängt sich niemals auf, und hat mit Cluzet und Denicourt zwei fabelhafte Hauptdarsteller, die sehr gut miteinander spielen, jeder für sich ein wenig spröd und sperrig, genau wie es für ihre Rollen passt. Naja, und am Schluss fahren Jean-Pierre und Nathalie in einen ländlichen Sonnenaufgang und dazu singt Nina Simone – da kann und will ich einfach nicht streng sein… (21.9.)