La pazza gioia (Die Überglücklichen) von Paolo Virzì. Italien, 2016. Valeria Bruni Tedeschi, Micaela Ramazzotti, Valentina Carnelutti, Marco Messeri, Anna Galiena, Simone Lenzi, Isabella Cecchi
Die Villa Biondi in der Kommune von Pistoia in der Toskana dient als Einrichtung für psychiatrisch erkrankte Menschen. Unter anderem beherbergt sie die Signora Beatrice Morandini Valdirana, die dem Begriff bipolar alle Ehre macht und der es offensichtlich gelungen ist, ihre wohlhabende, adelige Familie durch ihren vollkommen unkontrollierbaren Lebensstil weitgehend in den Ruin zu treiben. Auch in der Villa gebärdet sie sich als Grande Dame, flaniert mit Sonnenschirm im schicken Outfit unter all den anderen schrägen Menschen und gibt zu jedem Thema wie selbstverständlich den Ton an. Als die junge Donatella in die Einrichtung gebracht wird, nimmt sie sich ihrer wie gewohnt an, belagert sie mit Rat und Tat, und als nach einer Arbeitsmaßnahem in einer benachbarten Großgärtnerei der abendliche Bus, der sie zurück in die Villa bringen soll, nicht pünktlich eintrifft, ergreift Beatrice die Initiative, schnappt sich Donatella und büxt mit ihr zusammen aus. Donatella hat ein Ziel: Sie will ihren kleinen Sohn, der ihr einst von den Behörden weggenommen worden war, wiedersehen, und Beatrice will einfach nur zurück zum großen Lebensstil von einst und ihre Kontakte wiederbeleben. Ihre Flucht wird eine chaotische, aberwitzige Irrfahrt durch die Toskana und endet in Viareggio, wo Donatella tatsächlich ihren Sohn am Strand trifft. Danach geht sie zurück in die Villa Biondi, wo auch Beatrice schon wieder gelandet ist, nachdem man sie in Viareggio aufgegriffen hat.
Das Ganze klingt jetzt sehr nach einem jener seichten Filmchen, die den zweifelhaften Versuch unternehmen, psychiatrische Erkrankungen zum Katalysator netter, menschelnder Komödien zu machen. Derer gibt es mittlerweile zu viele, um sie aufzuzählen, und sie machen sich alle gut im Wohlfühlkino der Frascatifraktion. Erleichtert stellte ich aber sehr bald fest, dass Paolo Virzì ganz sicher nicht in diesen verlockenden Honigtopf getreten ist, sondern einen wirklich starken Film gemacht hat, der auf eindrucksvolle Weise zwischen den Polen Komödie und Drama balanciert, ohne je das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung zu verlieren. Was gerade auf diesem riskanten Terrain schon eine echte Kunst ist.
Die treibende Kraft dieser Geschichte ist natürlich die Beatrice, von Valeria Bruni Tedeschi fulminant verkörpert, und gerade so, dass sie uns abwechselnd auf die Nerven geht und auch berührt, also mich jedenfalls. Ihre brüchige Grandezza, die endlos fließenden Redeschwalle, die knapp unterdrückte Hysterie, die zu Trümmern zerfallenen Überreste ihrer Herkunft, jener Kultur, mit der sie aufgewachsen ist, deren Regeln und Riten sie absorbiert hat, all dies trifft in ständig wechselnder Dominanz auf eine tiefe Verunsicherung, auf eine fast kindliche Hilflosigkeit, und gerade in den Szenen in der Villa Biondi erleben wir mehrmals, wie fügsam sie plötzlich wird, wenn sie einer autoritär auftretenden Person ausgeliefert ist. Jenem Mechanismus begegnen wir später im Zusammenhang mit ihrem Ex-Mann wieder und ahnen dunkel, wie ihr früheres Leben, also vor allem Eheleben, ausgesehen haben mag. Dazu gesellt sich noch der verbitterte Kommentar ihrer Mutter, die beschreibt, wie die gesamte Familie vom ruinösen Lebenswandel Beatrices in den Abgrund gestoßen wurde und nun gezwungen ist, die Villa und den dazugehörigen Garten als Filmkulisse zu vermieten. Diese Beatrice ist ein wahrhaft schillernder, faszinierender Charakter, und Bruni Tedeschi widmet ihm eine ebenso faszinierende Darstellung, die haargenau immer den richtigen Ton trifft, und das ist entscheidend dafür, dass dieser Film niemals albern oder pathetisch wirkt. Micaela Ramazzotti als Dontella braucht logischerweise eine längere Zeit, um sich neben dieser dominanten Partnerin behaupten, um ein eigenes Profil gewinnen zu können. Wenn es soweit ist, sehen wir eine verletzliche, tief verstörte, sehr labile Person, hinter der ebenfalls ein ruppiger Mann aus ruppigem Milieu steht und die von den Behörden als jemand eingestuft wurde, die unfähig ist, Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen. Auch Ramazzotti gelingt es großartig, den schmalen Grat zwischen tragisch und komisch so zu treffen, dass ich zwar mit ihr fühle, aber dennoch ihre Probleme und Unzulänglichkeiten nicht ignorieren kann. Virzì zeigt die beiden Frauen nicht nur als Opfer, womöglich eines unmenschlichen Systems, er zeigt einfach zwei Frauen, psychisch labil oder mehr oder minder entgleist, die nicht in der Lage sind, sich konform zu verhalten, nach vorgegebenen Regeln und Normen zu funktionieren. Und je nach der Situation kann das hinreißend lustig sein, aber manchmal eben auch sehr abgründig und traurig. Wenn die beiden Donatellas Mutter aufsuchen, die für einen reichen kranken Mann den Haushalt führt, erleben wir eine Mischung aus Kälte und Egoismus, eine Mutter, die keinen Blick für die Situation ihrer Tochter hat, die vielleicht selbst auch keine Kraft mehr hat, sich für ihre kranke Tochter einzusetzen. Es gibt keinerlei einseitige Schuldzuweisung hier, eher eine diffuse Sammlung verschiedener Faktoren, aber eher in Donatellas Geschichte, während Beatrice ein Sprössling der toskanischen Gspusigesellschaft ist, und nunmehr angeglotzt wird wie ein Freak, eine bipolare Schlampe halt und vor allem für alle Anwesenden peinlich. Beatrices Tragik liegt darin, dass sie eben diese Reaktionen ausblendet, sie nicht wahrnehmen und entsprechend auch nicht auf sie reagieren kann, weshalb sie manch schmerzhafte Situation bis auf die Spitze treibt, zielsicher den nächsten Eklat provoziert. Und nur selten kann sie sich mit Eleganz, Bluff und Wortgewandtheit retten und irgendwie ihre Würde bewahren, häufig genug erleidet sie einmal mehr Schiffbruch, nur um kurz drauf wieder wie Phönix aus der Asche aufzustehen und den nächsten großen Auftritt anzubahnen, ob im Spielcasino, im sauteuren Restaurant oder in der Straßenbahn, jede Bühne ist ihr gleich recht. Sie hat vor allem die Gabe, Donatella und ein bisschen auch uns Zuschauer in Situationen hineinzuziehen, in die wir lieber nicht hineingezogen werden möchten, dennoch sehen wir gespannt und neugierig, mit genussvollem Bangen zu, wie sich diese Situation entwickeln wird und wie die beiden Frauen es diesmal schaffen, davonzukommen, ohne allzu großen Schaden zu nehmen. Andererseits gibt es Momente, in denen man fast den Atem anhält, beispielsweise wenn Donatella am Strand von Viareggio auf ihren Sohn trifft, mit ihm spricht, mit ihm badet und spielt, während ein paar Meter weiter oben die Zieheltern höchst angespannt zuschauen, und der Vater die Mutter dazu zwingt, Donatella in Ruhe zu lassen, nicht einzugreifen, sondern ihr ein wenig Zeit mit dem Sohn zu lassen.
Abends beim Verlassen des Kinos spürte ich, dass ich noch gar keine konkrete Meinung zu diesem Film hatte, oder jedenfalls keine, die ich hätte ich Worte fassen können. Er hatte mir sehr gut gefallen, das war mir klar, doch hätte ich nicht genauer erklären können, weshalb. Je länger ich nun über ihn nachdenke, desto besser finde ich ihn, und dies allein schon macht ihn sehr bemerkenswert. Wirklich viel ist aus Italien in diesem Jahr nicht über die Alpen zu uns rübergekommen - mit „Die Überglücklichen“ haben sie aber einen echt starken Schlusspunkt für sich! (29.12.)