Kollektivet (Die Kommune) vom Thomas Vinterberg. Dänemark/Schweden/ Niederlande, 2015. Trine Dyrholm, Ulrich Thomsen, Helene Reingaard Neumann, Martha Sofie Wallstrøm Hansen, Julie Agnete Vang, Lars Ranthe, Fares Fares, Magnus Millang, Anne Gry Henningsen

   Dem ollen Herrn Vinterberg ist tatsächlich gelungen, was (leider) nur sehr selten gelingt: Er hat meinen ewigen Mitstreiter und ich in eine lebhaft kontroverse Diskussion vertieft aus dem Kino entlassen und uns mindestens noch den halben Weg nach Haus begleitet. Das hat’s wirklich lang nicht mehr gegeben und spricht auf jeden Fall schon mal grundsätzlich für diesen Film. Wie vieles andere auch, aber da war mein ewiger Mitstreiter total anderer Ansicht – er hatte offenbar eher ein Porträt einer Kommune mit gleichberechtigten Beteiligten erwartet, und was er bekam, war die Geschichte eines Ehepaares, das in einer Kommune lebt, wobei die übrigen Bewohner mehr oder weniger zu Nebenfiguren wurden. Für ihn ein unüberbrückbarer Widerspruch zu seinen Erwartungen, für mich eben nicht, und deshalb konnte ich mich anders damit auseinandersetzen und konnte den Film vor allem ganz hervorragend finden. Alles eine Frage der Perspektive, wie so häufig. Was lerne ich denn hier über Kommunen? Ist doch nur ne ganz banale Dreiecksgeschichte. Meine Antwort: Ich habe ne ganze Menge über Kommunen gelernt, gerade weil sich eine im Grunde ganz banale Geschichte abspielt, die sich auch in jedem x-beliebigen Milieu hätte abspielen können. Genau das ist der Kern der Geschichte hier, jedenfalls habe ich das so empfunden.

   Erik erbt ein großes altes Haus, das er eigentlich so schnell und teuer wie möglich loswerden will. Ehefrau Anna und Tochter Freja überreden ihn, es zu behalten und eine Kommune zu gründen. Wir schreiben der 70er, der Vietnamkrieg ist just vorbei. Nach einem festgelegten Aufnahmeritual werden die neuen Mitbewohner gefunden, und bald wohnen insgesamt neun Menschen unter einem Dach, und das scheint sich auch ganz gut anzulassen. Dann lässt sich Erik auf die Avancen seiner Studentin Emma ein, und daraus wird bald was Ernstes. Erik erzählt Anne davon, und die reagiert zunächst mal sehr cool und erwachsen, schlägt Erik am Ende sogar vor, mit Emma in der Kommune zu wohnen, irgendwie werde man das schon schaffen. Eine fatale Fehleinschätzung, denn sie wird an der Situation zerbrechen, und Erik bringt nicht die Sensibilität, nicht das Verantwortungsbewusstsein auf, um dieser extrem belastenden Lage ein Ende zu bereiten. Er besteht darauf, mit Emma in dem Haus wohnen zu bleiben, und so bleibt am Schluss keine andere Möglichkeit, als Anna zum Auszug zu bewegen, weil sie sonst vollkommen kaputt gehen würde. Wohlgemerkt ist es ihre vierzehnjährige Tochter Freja, die das als einzige erkennt, oder zumindest als einzige ausspricht, während sich die anderen in feiges Schweigen oder banale Betroffenheitsfloskeln flüchten.

   Und genau hier finde ich des Pudels Kern, hier lerne ich alles über Kommunen, was meiner Ansicht nach wissenswert ist, wobei Vinterberg absolut nicht polemisiert, keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, schon gar keine bittere Anklage führt, sich aber ebenso wenig in nostalgische Verklärung verirrt. Die große Frage für mich ist: Wie kann es geschehen, dass sich vor aller Augen ein solches Drama abspielt, und die am meisten Betroffene, nämlich Anna, dennoch total allein mit ihrem Kummer, ihrer Qual, ihrer Demütigung ist? Wozu taugt der neue Lebensentwurf, die angebliche Alternative zur hergebrachten bürgerlichen Lebensform, wenn sich der scheinbar größte Vorteil nicht auswirkt? Ständig sind Menschen um Anna herum, die natürlich wissen, was los ist und wie es ihr geht – und niemand greift ein, alle schauen betreten, es nimmt sich nicht mal jemand in den Arm, um sie zu trösten. Unfassbar. Hinter der Fassade warten genau die gleichen Verhaltens- und Denkmuster, wie überall. Die Jungs picheln ihr Bier auf Kosten aller, manch einer lebt auf Kosten aller, und ein Typ wie Erik ist ein ganz normaler bürgerlicher Scheißer wie wir alle, egozentrisch und konfliktscheu. Anna überschätzt ihre Souveränität – eine populäre TV-Sprecherin, eine starke, selbstbewusste Frau, die plötzlich zu einer ganz normalen betrogenen Ehefrau wird, verletzt, tief getroffen und verunsichert. Statt der großen Freiheit, die man natürlich auch in den Zweierbeziehungen realisiert, überkommt sie die ganz normale Sehnsucht nach Nähe und Bestätigung, hört sie ihrem Mann beim Sex mit der andere, der jüngeren, der hübscheren zu, geht ihr eigenes Selbstwertgefühl total in die Binsen, entgleitet ihr zunehmend jegliche Kontrolle, kommt der Alkohol ins Spiel, und bald ist auch der Job futsch. Ihr großer Traum wird zum Alptraum, eine mehr als bittere Geschichte, die Vinterberg einfühlsam in Szene setzt und die Trine Dyrholm faszinierend auf die Leinwand bringt. Ihre Anna hatte gehofft, in der Kommune erhaben zu sein über jene Zustände, die vielleicht im früheren gewöhnlichen Familienleben auftreten, und sie muss erfahren, dass dies mitnichten so ist, dass man nämlich nie erhaben ist über sowas. Kategorien wie bürgerlich treffen hier einfach nicht, es geht um ganz essentielle menschliche Gefühle, vor denen man nie und nirgends sicher ist. Bei Erik ist die Fallhöhe beiweitem nicht so hoch, denn der lässt sich sowieso nie so ganz auf die Kommune ein, während Anna mit Feuer und Flamme dabei ist, stets die treibende Kraft, und ausgerechnet sie muss am Schluss gehen, damit die anderen in Frieden weitermachen können, sich sogar noch gratulieren dürfen, den Konflikt sauber gelöst zu haben. Grimmiger Hohn, so scheint mir, doch auch hier bleibt Vinterberg bei Anna, verschwendet keine Zeit auf Verurteilung oder Moralisches.

   Die Figur der Freja ist wohl die andere zentrale Figur, möglicherweise eine Art Sichtfenster für den Regisseur selbst, eine Art alter ego. Sie ist die Einzige, die das Treiben der Erwachsenen aus der Distanz erlebt, aber schon alt genug ist, um zu verstehen, um zu durchschauen. Was sie sieht, sind bürgerliche, die sich den Anschein von Alternativen geben, die vielleicht zum Teil wirklich dran glauben, die aber dennoch nicht raus können aus ihrer Haut. Und es gibt ja auch schöne Momente der Gemeinsamkeit, der Harmonie, des Miteinanders, auch in der Tragödie, als nämlich der sechsjährige Vilads seinem Herzfehler erliegt, und alle in Trauer vereint sind. Er stirbt in dem Moment, das Freja der Kommune ihren Freund präsentiert, einen älteren jungen, der sie zunächst wohl er als Routinenummer betrachtete, dann aber doch mit ihr zusammen blieb. Versucht sie, aus den Erfahrungen ihrer Eltern zu lernen, oder ist sie geradewegs dabei, genau die gleichen Muster durchzuspielen? Selbstbewusst oder doch nur abhängig? Ein Reiz dieses Films besteht auch in seiner Vieldeutigkeit, seinen vielen offenen Enden. Dass wir relativ wenig über die anderen Kommunarden erfahren, hat mich zumindest zu keiner Zeit irritiert, sie werden in wenigen Zügen umrissen, aber auf jeden Fall soweit ausreichend, um ihre Rolle zu spielen, um ein wenig Profil zu erhalten. Ein ausgewogenes Gruppenporträt war meiner Meinung nach nie Vinterbergs Intention - ihm das Fehlen eines solchen vorzuhalten, bedeutet, seine Absichten zu missverstehen, finde ich. Denn andererseits sagt er ja trotzdem eine ganze Menge über die Kommune aus, nur tut er dies mithilfe eines Liebesdramas, wie man es vielleicht in diesem Zusammenhang zunächst nicht erwartet hätte. Aber natürlich gehört ein Liebesdrama auch zum Alltag einer Kommune, denn die haben ja nicht in einem Paralleluniversum gelebt, so sehr sie es auch versucht haben mögen.

 

   Ich halte den Film für rundheraus gelungen, mehr nur, für ziemlich hervorragend. Innerhalb seiner Konstruktion gelingt ihm ein Gruppen- und Gesellschaftsporträt, das nicht als solches ausgestellt werden muss, sondern zwangsläufig entsteht. Darstellerisch wie inszenatorisch glänzend, inhaltlich komplex und fordernd. Nach „Das Fest“ und „Die Jagd“ der dritte großartige Gruppenfilm, den Vinterberg gemacht hat. Abschluss einer bemerkenswerten Folge dänischer Filme in diesem Jahr, ziemlich einzigartig bisher, aber das muss ja nicht so bleiben… (1.5.)