Die Mitte der Welt von Jakob M. Erwa. BRD, 2016. Louis Hofmann, Jannik Schüman, Sabine Timoteo, Ada Philine Stappenbeck, Bendix Hansen, Sarah Fuhrer, Svenja Jung, Inka Friedrich, Nina Proll, Sascha Alexander Geršak
Dies ist nun die zweite deutsche Verfilmung eines erfolgreichen Jugendromans innerhalb kurzer Zeit, und wenn ich die beiden mal so direkt vergleiche, ist mir ganz klar, dass „Die Mitte der Welt“ genau das erreicht, was Fatih Akin nie so ganz hinbekommen hat, nämlich mich zu bewegen und voll und ganz für alle beteiligten Figuren einzunehmen. Das hat nichts damit zu tun, dass die Figuren in diesem Film etwas älter und mir damit vielleicht ein Stückchen näher sind als in „Tschick“, sondern damit, dass Jakob M. Erwa schlicht und einfach den richtigen Ton trifft, und „Tschick“ beweist nachdrücklich, dass dies gar nicht so einfach ist wie gedacht und alles andere als ein Selbstläufer.
Glass ist ein Hippiemädchen aus den Staaten, lebt nun in einem großen alten geerbten Haus irgendwo in Deutschland, hat eine beeindruckend lange Liebhaberliste, und nur die Nummer 3 kommt wohl als Vater ihre beiden Zwillinge Phil und Dianne infrage. Weiterhin geben sich die erfolglosen Bewerber um ihre Gunst die Klinke in die Hand, scheitern alle an ihren Launen und ihrem ausgeprägten Unabhängigkeitssinn, und so lebt die Kleinfamilie meistens zu dritt, worunter besonders Dianne leidet, denn sie sehnt sich offenbar nach „normalen“ Verhältnissen. Die Zwillinge leben ganz eng zusammen, sind auf vielen Ebenen untrennbar verbunden, entdecken die Welt gemeinsam, teilen alles. Dann wird Glass erneut schwanger, doch kann der Vater des Kindes auch diesmal nicht bleiben, und plötzlich kommt es zu einer tragischen Fehlgeburt. Dieses Ereignis führt zu einem unheilbaren Riss zwischen Glass und Dianne, den Phil erst viele Jahre später wahrnimmt und dessen Ursache er noch später erfährt, denn weder Mutter noch Schwester wollen mit ihm darüber sprechen. Wir sind im Jetzt angekommen, der Erzählzeit des Films, alles andere taucht in Rückblenden auf, auch die Geschichte von Dianne und den Tieren, auf die sie irgendeine magische Anziehungskraft ausüben kann. Phil kommt aus einem Sommercamp zurück nach Hause und findet Glass und Dianne in eisigem Schweigen getrennt, und keine von beiden redet mit ihm darüber. Auf ihn selbst warten aber auch einschneidende Dinge, denn zu Schulbeginn kommt ein neuer Typ in ihre Klasse und in den verknallt sich Phil sofort, zum leisen Missfallen seiner besten Freundin Kat, mit der er ansonsten durch die Gegend zieht. Phil und Nicholas haben eine tolle Zeit zusammen, aber wie wir alle wissen, sind die schönen Zeiten nie von langer Dauer, und als Phil merkt, dass Nicholas offensichtlich nicht die gleiche Ernsthaftigkeit in ihre Beziehung investiert wie er und sich obendrein auch noch mit Kat einlässt (und umgekehrt…), bricht für kurzfristig die Welt zusammen. Dianne steht nicht als die gewohnte Gesprächspartnerin zur Verfügung, sie gibt sich distanziert, geht ihrer eigenen Wege, und Glass kann höchstens mit eine paar allgemeineren Lebensweisheiten aufwarten, ist ansonsten mit ihrem neuen Lover Michael beschäftigt. Gut, dass es Tereza und Pascal gibt, zwei lesbische Freundinnen, die in einer Villa nahebei wohnen und für ihn stets ein offenes, empathisches Ohr haben. Am Ende fügt sich immerhin einiges zusammen: Phil ist stark genug, mit Nicholas Schluss zu machen, vielleicht auch mit Kat, er bohrt so lange nach, bis Dianne schließlich doch redet, Michael ist offenbar zäh genug, sich nicht gleich von Glass‘ ersten Rausschmeißmanöver abschrecken zu lassen, und Phil reist für drei Wochen in die USA, vielleicht um den Vater zu finden, der immer irgendwie einen blinden Fleck in seinem Herzen hinterlassen hatte. Am Bahnhof flüstert de bis dahin widerspenstige Mutter etwas ins Ohr – vielleicht sogar den Namen des Vaters.
Also, wie in allen guten Jugendbüchern geht es um Liebe, Familie, Selbstfindung, Sommer, Freundschaft, Geheimnisse, Sehnsucht, ganz große Gefühle in beide Richtungen und so weiter. Diese Gefühle, der Überschwang der Verliebtheit und der anschließend folgende Weltuntergang werden hier mit vollem Elan rübergebracht, ohne dass dem Film irgendwas Seifiges oder Spekulatives anhaftet. Im Gegenteil, der Erzählton ist durchgehend so natürlich, direkt, locker, dass ich einfach gern mitgegangen bin, auch wenn so manches Motiv vielleicht etwas zu idyllisch anmutet, aber das hat mich herzlich wenig gejuckt. Der Film ist einfach klasse, er stellt uns Leute mit sehr alternativen Lebensentwürfen vor, und das tut er mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit. Sexualität spielt natürlich eine große Rolle, Glass‘ fast schon selbstzerstörender Männerkonsum ebenso wie Phils und Nicholas‘ intensive Körperlichkeit oder die gelassene, in sich ruhende Lebensgemeinschaft von Tereza und Pascal, die sogar noch über sich sagen können, dass sie glücklich sind, als Phil glauben muss, es könne so etwas wie Glück gar nicht geben. Phil ist natürlich nicht grad der normale Junge in diesem Alter – er ist sehr mitteilsam, offen, braucht immer jemanden zum Reden, immer Klarheit. Eltern würden sich vermutlich einen Sohn wie ihn wünschen, wenn sie an die mürrischen, unzugänglichen Geschöpfe denken, die ihre Stinkebude höchstens zur Nahrungsaufnahme verlassen und deren verbale Mitteilungen sich auf gemurmelte Einzeiler beschränken (ich weiß, wovon ich rede…). Die magische Korrespondenz zur Zwillingsschwester wird in sehr schönen Rückblenden nachfühlbar gemacht, und sie kontrastiert herb mit der Gegenwart, denn nun ist Dianne nicht mehre die süße, blonde, allgegenwärtige Schwester, die immer für ihn da ist und ihm geschworen hat, ihn niemals im Stich zu lassen, sie ist selbst eine sperrige junge Frau, verschlossen, auch ihm gegenüber abweisend, und doch ist da immer noch tief drin eine Verbundenheit, die es ihm erlaubt, immer wieder in ihre Privatsphäre vorzudringen und von ihr dennoch geduldet zu werden, und die schließlich auch dazu führt, dass sie ihm erzählt, was damals zu Glass‘ Fehlgeburt führte und dazu, dass ihr Zusammenleben nie mehr so war wie vorher.
Die Schauspieler sind großartig und sorgen maßgeblich dafür, dass die Figuren so direkt und gefühlvoll zu uns rüberkommen. Louis Hofmann, der ja in „Freistatt“ schon sehr beeindruckend war, ist ein toller Phil, der Verletzlichkeit, Unsicherheit, Schwärmerei genauso unaufdringlich und überzeugend spielen kann wie letztlich gewachsenes Selbstbewusstsein und die Entschlossenheit, neue Türen zu öffnen. Sabine Timoteo ist die hundertprozentig beste Besetzung für Glass, Ada Philine Stappenbeck eine schön rätselhafte Schwester, Jannik Schüman der ideale Traumjunge, und drum herum findet sich eine Handvoll nicht minder großartiger Leute, die vor allem für eines garantieren, nämlich das der Film echt und völlig unpädagogisch wirkt. Wenn ich also nochmal den Vergleich vom Anfang bemühen wollte, käme ich zu dem Ergebnis, dass „Die Mitte der Welt“ eigentlich in allen Belangen etwas besser ist als „Tschick“ – ich jedenfalls saß mit ganz anderem Gefühl im Kino, vor allem mit viel mehr Gefühl, und das sollte immer den Ausschlag geben. (18.11.)